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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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gelische Landeskirche der 8 älteren Provinzen der Monarchie. Die ursprüngliche
Wortfassung nahm eine Erweiterung der Landeskirche in Aussicht, die zweite
lehnte sie ab. Dem guten Deutschen durchschnittlichen Schlages ist nur wohl,
wenn er den Schlagbaum vor der Nase hat. Kleinmuth und Engherzigkeit,
diese deutschen Geschwister, wann werden wir sie einmal ablegen?

Bei der bevorstehenden Entscheidung des Landtags über die staatsgesetz¬
liche Bestätigung der neuen Kirchenverfassung ruht auf der nationalliberalen
Partei nach unserer Ueberzeugung eine folgenreiche Verantwortlichkeit. Diese
Partei hat die schwierige, aber werthvolle und dankbare Aufgabe überkommen,
im deutschen Staatsleben die Pflege der zusammenhaltenden und erhaltenden
Kräfte zu versöhnen mit der Sicherung der freien Bewegung. Wenn die
Partei sich unfähig erweist, einen erhaltenden Factor des sittlichen Lebens
von so unermeßlicher Bedeutung wie die evangelische Kirche nach deren eigent¬
lichen Bedürfnissen zu verstehen und zu würdigen, so werden sich nach unserer
festen Ueberzeugung die edelsten Kräfte der Nation mit ihrem Vertrauen von
der Partei abwenden und die Partei wird bald spüren, was eine solche Ab¬
wendung bedeutet.

Wir fürchten nicht, daß die landesherrliche Verkündigung des Abschlusses
der Kirchenverfassung zum kirchlichen Gesetz, bevor die staatsgesetzlichen Ge¬
nehmigung erfolgt ist, wie es ja auch mit dem Kirchengesetz von 1873 gehalten
worden -- wir fürchten nicht, daß diese formelle Frage für die nationalliberale
Partei zum Vorwand dienen könnte, den Abschluß der Kirchenverfassung
ungünstig aufzunehmen. Es ist wahr, Artikel 15 der Verfassungsurkunde für
den preußischen Staat, der 1873 noch galt, ist seitdem aufgehoben. Aber
Niemand wird behaupten wollen, daß ohne diesen Artikel das Territorial¬
system in Preußen in dem Maße Kirchenrecht gewesen sei, daß der Landesherr
die Kirchen mit Organen von fremdartiger Glaubensrichtung habe regieren
dürfen. So ist das Territorialsystem nirgends verstanden worden. In
Sachsen z. B. galt es als selbstverständlich, daß die vom katholischen Landes¬
herrn in LvanMUeis beauftragten Staatsminister Lutheraner sein müßten
und in Frankreich hat nie eine Regierung daran gedacht, die protestantische
Kirche durch Katholiken zu regieren. So konnte auch der König von Preußen
vor wie nach Aufhebung des Artikels 15 nicht daran denken, der evangelischen
Kirche eine Verfassung zu geben durch den Landtag, durch ein Organ, das
als solches der evangelischen Kirche fremd ist. Nur mit kirchlichen Organen
durfte die Kirchenverfassung errichtet werden, durch den Landtag aber, als
einen gesetzgebenden Factor für die allgemeinen Staatsangelegenheiten, darf die
Kirchenverfassung nur darauf geprüft werden, ob sie mit dem Staatsinteresse
verträglich ist, und je nach dem Ausfall dieser Prüfung muß die Kirchen-
verfassung staatsgesetzlich genehmigt und geschützt werden. Flete das Resultat


gelische Landeskirche der 8 älteren Provinzen der Monarchie. Die ursprüngliche
Wortfassung nahm eine Erweiterung der Landeskirche in Aussicht, die zweite
lehnte sie ab. Dem guten Deutschen durchschnittlichen Schlages ist nur wohl,
wenn er den Schlagbaum vor der Nase hat. Kleinmuth und Engherzigkeit,
diese deutschen Geschwister, wann werden wir sie einmal ablegen?

Bei der bevorstehenden Entscheidung des Landtags über die staatsgesetz¬
liche Bestätigung der neuen Kirchenverfassung ruht auf der nationalliberalen
Partei nach unserer Ueberzeugung eine folgenreiche Verantwortlichkeit. Diese
Partei hat die schwierige, aber werthvolle und dankbare Aufgabe überkommen,
im deutschen Staatsleben die Pflege der zusammenhaltenden und erhaltenden
Kräfte zu versöhnen mit der Sicherung der freien Bewegung. Wenn die
Partei sich unfähig erweist, einen erhaltenden Factor des sittlichen Lebens
von so unermeßlicher Bedeutung wie die evangelische Kirche nach deren eigent¬
lichen Bedürfnissen zu verstehen und zu würdigen, so werden sich nach unserer
festen Ueberzeugung die edelsten Kräfte der Nation mit ihrem Vertrauen von
der Partei abwenden und die Partei wird bald spüren, was eine solche Ab¬
wendung bedeutet.

Wir fürchten nicht, daß die landesherrliche Verkündigung des Abschlusses
der Kirchenverfassung zum kirchlichen Gesetz, bevor die staatsgesetzlichen Ge¬
nehmigung erfolgt ist, wie es ja auch mit dem Kirchengesetz von 1873 gehalten
worden — wir fürchten nicht, daß diese formelle Frage für die nationalliberale
Partei zum Vorwand dienen könnte, den Abschluß der Kirchenverfassung
ungünstig aufzunehmen. Es ist wahr, Artikel 15 der Verfassungsurkunde für
den preußischen Staat, der 1873 noch galt, ist seitdem aufgehoben. Aber
Niemand wird behaupten wollen, daß ohne diesen Artikel das Territorial¬
system in Preußen in dem Maße Kirchenrecht gewesen sei, daß der Landesherr
die Kirchen mit Organen von fremdartiger Glaubensrichtung habe regieren
dürfen. So ist das Territorialsystem nirgends verstanden worden. In
Sachsen z. B. galt es als selbstverständlich, daß die vom katholischen Landes¬
herrn in LvanMUeis beauftragten Staatsminister Lutheraner sein müßten
und in Frankreich hat nie eine Regierung daran gedacht, die protestantische
Kirche durch Katholiken zu regieren. So konnte auch der König von Preußen
vor wie nach Aufhebung des Artikels 15 nicht daran denken, der evangelischen
Kirche eine Verfassung zu geben durch den Landtag, durch ein Organ, das
als solches der evangelischen Kirche fremd ist. Nur mit kirchlichen Organen
durfte die Kirchenverfassung errichtet werden, durch den Landtag aber, als
einen gesetzgebenden Factor für die allgemeinen Staatsangelegenheiten, darf die
Kirchenverfassung nur darauf geprüft werden, ob sie mit dem Staatsinteresse
verträglich ist, und je nach dem Ausfall dieser Prüfung muß die Kirchen-
verfassung staatsgesetzlich genehmigt und geschützt werden. Flete das Resultat


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[0158] gelische Landeskirche der 8 älteren Provinzen der Monarchie. Die ursprüngliche Wortfassung nahm eine Erweiterung der Landeskirche in Aussicht, die zweite lehnte sie ab. Dem guten Deutschen durchschnittlichen Schlages ist nur wohl, wenn er den Schlagbaum vor der Nase hat. Kleinmuth und Engherzigkeit, diese deutschen Geschwister, wann werden wir sie einmal ablegen? Bei der bevorstehenden Entscheidung des Landtags über die staatsgesetz¬ liche Bestätigung der neuen Kirchenverfassung ruht auf der nationalliberalen Partei nach unserer Ueberzeugung eine folgenreiche Verantwortlichkeit. Diese Partei hat die schwierige, aber werthvolle und dankbare Aufgabe überkommen, im deutschen Staatsleben die Pflege der zusammenhaltenden und erhaltenden Kräfte zu versöhnen mit der Sicherung der freien Bewegung. Wenn die Partei sich unfähig erweist, einen erhaltenden Factor des sittlichen Lebens von so unermeßlicher Bedeutung wie die evangelische Kirche nach deren eigent¬ lichen Bedürfnissen zu verstehen und zu würdigen, so werden sich nach unserer festen Ueberzeugung die edelsten Kräfte der Nation mit ihrem Vertrauen von der Partei abwenden und die Partei wird bald spüren, was eine solche Ab¬ wendung bedeutet. Wir fürchten nicht, daß die landesherrliche Verkündigung des Abschlusses der Kirchenverfassung zum kirchlichen Gesetz, bevor die staatsgesetzlichen Ge¬ nehmigung erfolgt ist, wie es ja auch mit dem Kirchengesetz von 1873 gehalten worden — wir fürchten nicht, daß diese formelle Frage für die nationalliberale Partei zum Vorwand dienen könnte, den Abschluß der Kirchenverfassung ungünstig aufzunehmen. Es ist wahr, Artikel 15 der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, der 1873 noch galt, ist seitdem aufgehoben. Aber Niemand wird behaupten wollen, daß ohne diesen Artikel das Territorial¬ system in Preußen in dem Maße Kirchenrecht gewesen sei, daß der Landesherr die Kirchen mit Organen von fremdartiger Glaubensrichtung habe regieren dürfen. So ist das Territorialsystem nirgends verstanden worden. In Sachsen z. B. galt es als selbstverständlich, daß die vom katholischen Landes¬ herrn in LvanMUeis beauftragten Staatsminister Lutheraner sein müßten und in Frankreich hat nie eine Regierung daran gedacht, die protestantische Kirche durch Katholiken zu regieren. So konnte auch der König von Preußen vor wie nach Aufhebung des Artikels 15 nicht daran denken, der evangelischen Kirche eine Verfassung zu geben durch den Landtag, durch ein Organ, das als solches der evangelischen Kirche fremd ist. Nur mit kirchlichen Organen durfte die Kirchenverfassung errichtet werden, durch den Landtag aber, als einen gesetzgebenden Factor für die allgemeinen Staatsangelegenheiten, darf die Kirchenverfassung nur darauf geprüft werden, ob sie mit dem Staatsinteresse verträglich ist, und je nach dem Ausfall dieser Prüfung muß die Kirchen- verfassung staatsgesetzlich genehmigt und geschützt werden. Flete das Resultat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/158>, abgerufen am 01.07.2024.