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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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selbst in Dinant an der Maas d. 22. Februar 1806, also beide aus fran¬
zösischem Sprachgebiet geboren. Darauf wohnte sein Vater, der die Kriege
von 1799 --1803 mitgemacht hatte, in Löwen, wo er das Schneiderhand¬
werk trieb. Später trat derselbe in die holländische Gendarmerie ein.

Der junge Wiertz hatte sich schon in der Schule durch sein frühzeitig
hervortretendes eminentes Talent bemerklich gemacht. Seine autodidaktischen
Zeichnungen und Schnitzereien zogen die Aufmerksamkeit eines reichen Kunst¬
freundes, des Abgeordneten P. Maibe auf sich. Dieser brachte ihn nach Ant¬
werpen, wo er an den Malern Herreyrs und van Bree treffliche Meister fand.
So ist er also, obwohl auf wallonischen Gebiete geboren, seinem Bildungs¬
gange nach doch ein Vlaming, er ist es aber auch in der gemüthvollen Tiefe
und in der zähen ausdauernden Gründlichkeit seines gesammten Denkens und
Schaffens. Der Grund, weshalb ihm die Portraitmalerei nicht genügte, giebt
uns den Schlüssel zum Verständniß seiner gewaltigen Werke. Die Schönheit
der Formen, die Kühnheit und der Schwung der Compositionen, der Glanz
und die Pracht des Colorits, alles das war ihm nur Mittel zum Zweck:
eine Idee wollte er in jedem Gemälde verkörpern, und so sind seine Werke
sozusagen gemalte Dichtungen, packende phantasiereiche Originalpoesieen oder
Verkörperungen homerischer oder biblischer Scenen. Nie ist mir die nahe
Verwandtschaft und der innere Zusammenhang der Poesie und der Malerei
so klar geworden, als vor den Bildern des Meister Wiertz.

Die meisten großen biblischen sujets von ihm sind bei ihrem Rund¬
gänge durch die Ausstellungen fast ganz Europas oft genug eingehend be¬
sprochen und in Reproductionen so vielfach verbreitet, daß ich hier von einem
näheren Eingehen auf dieselben absehen kann, was auch viel mehr Raum er¬
fordern würde, als mir hier zu Gebote steht. Eine größere Energie der
Handlung und einen höheren Schwung der Phantasie als sich in diesen Colossal¬
bildern aus spricht, findet sich wohl kaum bei einem andern Meister der neueren
Zeit. Man könnte den Kampf der Hölle mit dem Himmel, welches
ich für das Meisterstück des Künstlers halte, in mancher Hinsicht mit Kaul¬
bachs Hunnenschlacht vergleichen. Doch findet sich in dem Wiertzschen Bilde
nichts von der an Kaulbachschen Schöpfungen oft getadelten Vermischung des
Transcendenten mit der historischen Wirklichkeit. Auch finde ich die Compo-
sition bei Wiertz kühner, die Bewegung wilder, feuriger als bei Kaulbach.
In der Pracht des Colorits und in der markigen Zeichnung erinnert nament¬
lich dieses Colossalgemälde an die besten Erzeugnisse der alten flandrischen
Schule, namentlich an den Stil des großen Rubens, mit dem überhaupt
Wiertz, wenn man die Alten mit den Modernen vergleichen darf, viel Be¬
rührungspunkte hat. Das erwähnte Gemälde hat eine Höhe von 11,S3.Metern


selbst in Dinant an der Maas d. 22. Februar 1806, also beide aus fran¬
zösischem Sprachgebiet geboren. Darauf wohnte sein Vater, der die Kriege
von 1799 —1803 mitgemacht hatte, in Löwen, wo er das Schneiderhand¬
werk trieb. Später trat derselbe in die holländische Gendarmerie ein.

Der junge Wiertz hatte sich schon in der Schule durch sein frühzeitig
hervortretendes eminentes Talent bemerklich gemacht. Seine autodidaktischen
Zeichnungen und Schnitzereien zogen die Aufmerksamkeit eines reichen Kunst¬
freundes, des Abgeordneten P. Maibe auf sich. Dieser brachte ihn nach Ant¬
werpen, wo er an den Malern Herreyrs und van Bree treffliche Meister fand.
So ist er also, obwohl auf wallonischen Gebiete geboren, seinem Bildungs¬
gange nach doch ein Vlaming, er ist es aber auch in der gemüthvollen Tiefe
und in der zähen ausdauernden Gründlichkeit seines gesammten Denkens und
Schaffens. Der Grund, weshalb ihm die Portraitmalerei nicht genügte, giebt
uns den Schlüssel zum Verständniß seiner gewaltigen Werke. Die Schönheit
der Formen, die Kühnheit und der Schwung der Compositionen, der Glanz
und die Pracht des Colorits, alles das war ihm nur Mittel zum Zweck:
eine Idee wollte er in jedem Gemälde verkörpern, und so sind seine Werke
sozusagen gemalte Dichtungen, packende phantasiereiche Originalpoesieen oder
Verkörperungen homerischer oder biblischer Scenen. Nie ist mir die nahe
Verwandtschaft und der innere Zusammenhang der Poesie und der Malerei
so klar geworden, als vor den Bildern des Meister Wiertz.

Die meisten großen biblischen sujets von ihm sind bei ihrem Rund¬
gänge durch die Ausstellungen fast ganz Europas oft genug eingehend be¬
sprochen und in Reproductionen so vielfach verbreitet, daß ich hier von einem
näheren Eingehen auf dieselben absehen kann, was auch viel mehr Raum er¬
fordern würde, als mir hier zu Gebote steht. Eine größere Energie der
Handlung und einen höheren Schwung der Phantasie als sich in diesen Colossal¬
bildern aus spricht, findet sich wohl kaum bei einem andern Meister der neueren
Zeit. Man könnte den Kampf der Hölle mit dem Himmel, welches
ich für das Meisterstück des Künstlers halte, in mancher Hinsicht mit Kaul¬
bachs Hunnenschlacht vergleichen. Doch findet sich in dem Wiertzschen Bilde
nichts von der an Kaulbachschen Schöpfungen oft getadelten Vermischung des
Transcendenten mit der historischen Wirklichkeit. Auch finde ich die Compo-
sition bei Wiertz kühner, die Bewegung wilder, feuriger als bei Kaulbach.
In der Pracht des Colorits und in der markigen Zeichnung erinnert nament¬
lich dieses Colossalgemälde an die besten Erzeugnisse der alten flandrischen
Schule, namentlich an den Stil des großen Rubens, mit dem überhaupt
Wiertz, wenn man die Alten mit den Modernen vergleichen darf, viel Be¬
rührungspunkte hat. Das erwähnte Gemälde hat eine Höhe von 11,S3.Metern


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[0404] selbst in Dinant an der Maas d. 22. Februar 1806, also beide aus fran¬ zösischem Sprachgebiet geboren. Darauf wohnte sein Vater, der die Kriege von 1799 —1803 mitgemacht hatte, in Löwen, wo er das Schneiderhand¬ werk trieb. Später trat derselbe in die holländische Gendarmerie ein. Der junge Wiertz hatte sich schon in der Schule durch sein frühzeitig hervortretendes eminentes Talent bemerklich gemacht. Seine autodidaktischen Zeichnungen und Schnitzereien zogen die Aufmerksamkeit eines reichen Kunst¬ freundes, des Abgeordneten P. Maibe auf sich. Dieser brachte ihn nach Ant¬ werpen, wo er an den Malern Herreyrs und van Bree treffliche Meister fand. So ist er also, obwohl auf wallonischen Gebiete geboren, seinem Bildungs¬ gange nach doch ein Vlaming, er ist es aber auch in der gemüthvollen Tiefe und in der zähen ausdauernden Gründlichkeit seines gesammten Denkens und Schaffens. Der Grund, weshalb ihm die Portraitmalerei nicht genügte, giebt uns den Schlüssel zum Verständniß seiner gewaltigen Werke. Die Schönheit der Formen, die Kühnheit und der Schwung der Compositionen, der Glanz und die Pracht des Colorits, alles das war ihm nur Mittel zum Zweck: eine Idee wollte er in jedem Gemälde verkörpern, und so sind seine Werke sozusagen gemalte Dichtungen, packende phantasiereiche Originalpoesieen oder Verkörperungen homerischer oder biblischer Scenen. Nie ist mir die nahe Verwandtschaft und der innere Zusammenhang der Poesie und der Malerei so klar geworden, als vor den Bildern des Meister Wiertz. Die meisten großen biblischen sujets von ihm sind bei ihrem Rund¬ gänge durch die Ausstellungen fast ganz Europas oft genug eingehend be¬ sprochen und in Reproductionen so vielfach verbreitet, daß ich hier von einem näheren Eingehen auf dieselben absehen kann, was auch viel mehr Raum er¬ fordern würde, als mir hier zu Gebote steht. Eine größere Energie der Handlung und einen höheren Schwung der Phantasie als sich in diesen Colossal¬ bildern aus spricht, findet sich wohl kaum bei einem andern Meister der neueren Zeit. Man könnte den Kampf der Hölle mit dem Himmel, welches ich für das Meisterstück des Künstlers halte, in mancher Hinsicht mit Kaul¬ bachs Hunnenschlacht vergleichen. Doch findet sich in dem Wiertzschen Bilde nichts von der an Kaulbachschen Schöpfungen oft getadelten Vermischung des Transcendenten mit der historischen Wirklichkeit. Auch finde ich die Compo- sition bei Wiertz kühner, die Bewegung wilder, feuriger als bei Kaulbach. In der Pracht des Colorits und in der markigen Zeichnung erinnert nament¬ lich dieses Colossalgemälde an die besten Erzeugnisse der alten flandrischen Schule, namentlich an den Stil des großen Rubens, mit dem überhaupt Wiertz, wenn man die Alten mit den Modernen vergleichen darf, viel Be¬ rührungspunkte hat. Das erwähnte Gemälde hat eine Höhe von 11,S3.Metern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/404>, abgerufen am 26.06.2024.