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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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doch eine andere Beleuchtung annehmen. Bis es dahin kommt, muß allerdings
der Krieg unter der einen oder der andern Form fortbestehen; denn es ist
relativ gleichgültig, ob der Kampf ums Dasein zwischen Volk und Racen die
Form des physischen Kampfes mit Waffen annimmt, oder sich in anderen,
scheinbar friedlichen Formen der Concurrenz bewegt, und der Krieg ist (wie ein
neuerer Denker richtig bemerkt) nicht die grausamste Form der Vernichtung,
sondern die roheste und zunächst liegende, zugleich jedoch auch die ultimg.
1'g.dio eines Volkes, welches sich in seinen Interessen von seinen Concurrenten
überholt sieht. "Die Opfer selbst des größten Krieges sind unbedeutend gegen
die Vernichtung von Millionen und aber Millionen, welche zu Grunde gehen,
wenn ein Volk von einem industriell höherstehenden vermittelst des Handels
ausgesaugt und eines Theils seiner bisherigen Existenzmittel beraubt wird."
-- Der Fortschritt im höchsten, absoluten Sinne, dessen Ziel, wenn über¬
haupt ein solches denkbar, die denkbar größte Glückseligkeit des Menschenge¬
schlechts ist, kennt nun freilich keine Rücksichten und nimmt seinen Weg ruhig
über Graus und Vernichtung, über Leichenstätten von Nationen, sobald ihm
diese zum Dünger für die Saatfelder der Zukunft dienen. Gegen diesen ist
menschliches Sperren und Streben machtlos -- er zermalmt, was seine Riesen¬
faust erfaßt; seinen Weg entlang fallen die Opfer millionenfach. Keines Menschen
Seele ist so großartig selbstlos und nur von dem Gedanken an die Humani¬
tätszwecke erfüllt, daß sie sich für diesen Fortschritt zu erwärmen vermöchte;
der Mensch muß für sein Streben näherliegende Zeile haben, er muß die
Peripherie des Kreises überschauen können, innerhalb dessen er wirkt, nur
dann trägt seine Aufopferung die Befriedigung der edlen That in sich. Zum
Glück kann er das auch: es giebt solche Kreise genug, innerhalb deren sich
der relative Fortschritt geltend machen kann; sie heißen Staat, Gesellschaft,
Wissenschaft, Cultur und wie sonst noch. Auch dieser bemächtigt sich aber
jene allgemeine Fortschrittsidee zu ihren Zwecken, ja, selbst den Rückschritt
der Theile nimmt sie in den Plan ihres großen Werkes auf. Mag es wahr
sein, daß die alten Griechen ihrer Fortschritts- und Neuerungssucht, der Ver¬
änderlichkeit und dem Allesverlangen zum Opfer fielen, weil eben das Neue
nicht gut und das Gute nicht neu war, -- so ist dieser falsche Fortschritt,
den wir wohl als einen sittlichen Rückschritt bezeichnen dürfen, in der Hand
des absoluten Fortschrittes zum Bildungsferment für alle geworden: die
Griechen sind dahin, von ihren Schätzen und Früchten zehrte durch die Ver¬
mittlung der Römer die Mitwelt, zehrt noch jetzt und in erhöhten Maaße
die Nachwelt. Man spricht so anerkennend von der harmonischen Erziehung
der athenischen Jugend, von der Bewegtheit und dem Glanz des öffentlichen
Lebens, von der Empfänglichkeit der Bürger für Kunst und Wissenschaft, von
dem idealen Schwung, dessen dort auch die großen Massen jedem Augenblick


doch eine andere Beleuchtung annehmen. Bis es dahin kommt, muß allerdings
der Krieg unter der einen oder der andern Form fortbestehen; denn es ist
relativ gleichgültig, ob der Kampf ums Dasein zwischen Volk und Racen die
Form des physischen Kampfes mit Waffen annimmt, oder sich in anderen,
scheinbar friedlichen Formen der Concurrenz bewegt, und der Krieg ist (wie ein
neuerer Denker richtig bemerkt) nicht die grausamste Form der Vernichtung,
sondern die roheste und zunächst liegende, zugleich jedoch auch die ultimg.
1'g.dio eines Volkes, welches sich in seinen Interessen von seinen Concurrenten
überholt sieht. „Die Opfer selbst des größten Krieges sind unbedeutend gegen
die Vernichtung von Millionen und aber Millionen, welche zu Grunde gehen,
wenn ein Volk von einem industriell höherstehenden vermittelst des Handels
ausgesaugt und eines Theils seiner bisherigen Existenzmittel beraubt wird."
— Der Fortschritt im höchsten, absoluten Sinne, dessen Ziel, wenn über¬
haupt ein solches denkbar, die denkbar größte Glückseligkeit des Menschenge¬
schlechts ist, kennt nun freilich keine Rücksichten und nimmt seinen Weg ruhig
über Graus und Vernichtung, über Leichenstätten von Nationen, sobald ihm
diese zum Dünger für die Saatfelder der Zukunft dienen. Gegen diesen ist
menschliches Sperren und Streben machtlos — er zermalmt, was seine Riesen¬
faust erfaßt; seinen Weg entlang fallen die Opfer millionenfach. Keines Menschen
Seele ist so großartig selbstlos und nur von dem Gedanken an die Humani¬
tätszwecke erfüllt, daß sie sich für diesen Fortschritt zu erwärmen vermöchte;
der Mensch muß für sein Streben näherliegende Zeile haben, er muß die
Peripherie des Kreises überschauen können, innerhalb dessen er wirkt, nur
dann trägt seine Aufopferung die Befriedigung der edlen That in sich. Zum
Glück kann er das auch: es giebt solche Kreise genug, innerhalb deren sich
der relative Fortschritt geltend machen kann; sie heißen Staat, Gesellschaft,
Wissenschaft, Cultur und wie sonst noch. Auch dieser bemächtigt sich aber
jene allgemeine Fortschrittsidee zu ihren Zwecken, ja, selbst den Rückschritt
der Theile nimmt sie in den Plan ihres großen Werkes auf. Mag es wahr
sein, daß die alten Griechen ihrer Fortschritts- und Neuerungssucht, der Ver¬
änderlichkeit und dem Allesverlangen zum Opfer fielen, weil eben das Neue
nicht gut und das Gute nicht neu war, — so ist dieser falsche Fortschritt,
den wir wohl als einen sittlichen Rückschritt bezeichnen dürfen, in der Hand
des absoluten Fortschrittes zum Bildungsferment für alle geworden: die
Griechen sind dahin, von ihren Schätzen und Früchten zehrte durch die Ver¬
mittlung der Römer die Mitwelt, zehrt noch jetzt und in erhöhten Maaße
die Nachwelt. Man spricht so anerkennend von der harmonischen Erziehung
der athenischen Jugend, von der Bewegtheit und dem Glanz des öffentlichen
Lebens, von der Empfänglichkeit der Bürger für Kunst und Wissenschaft, von
dem idealen Schwung, dessen dort auch die großen Massen jedem Augenblick


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/373>, abgerufen am 26.06.2024.