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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Abstraktion so weit treibt, daß man von einer Allerweltsbühne träumt, von
welcher die Bühne jedes einzelnen Volkes nur eine neue Auflage sein soll,
natürlich womöglich eine verbesserte. Dann muß es natürlich von vorn herein
als ausgemacht gelten, daß die Bühne überall dieselbe Geschichte, dieselbe
Entwicklung hat. Daß in dem Wesen des Dramas gewisse Momente enthalten
sind, über die sich kein Drama und keine Bühne hinwegsetzen kann, wird zu
einer Bedeutung hinaufgeschraubt, als wenn sich nunmehr auch alle Bühnen
nach der Schablone entwickeln müßten. Da kann es denn gar nicht aus¬
bleiben , daß auch alles rein schablonenmäßig beurtheilt wird. Nach der
Schablone werden die einzelnen Produkte dramatischen Schaffens abgeurtheilt,
und nach der Schablone wird der Bühne im Ganzen eine zukünftige Blüthe oder
ein drohender Verfall geweissagt. Hierüber fällt die Kritik der Verknöcherung
anheim, und der Streit um Gedeihen oder Verfall der Bühne wird zu einem
ganz oberflächlichen Wortgefecht.

Darum rathe ich, daß wir uns der Abstraktionen entschlagen, wenn wir
vom Theater sprechen, und daß wir die Verhältnisse so concret als möglich
in's Auge fassen. Um dazu den Anstoß zu geben, habe ich auf den Unterschied
von Volkstheater und Kunstbühne aufmerksam machen wollen. Ich habe,
gezeigt, daß es Volkstheater im niedrigeren und im edelsten Sinne geben
kann. So kann es auch bei den Kunstbühnen Unterschiede geben, und die
Verbindung von Volkstheater und Kunstbühne kann eine sehr mannigfaltige
sein. Kurz, wenn wir nur genau zusehen wollen, so werden sich uns Unter¬
schiede der mannigfaltigsten Art zwischen den Bühnen bemerklich machen, und
wir werden davon abkommen, immer nur von dem Abstraktum "Bühne" in
so verwirrender und zu schiefen Urtheilen führender Art zu reden, wie es
bisher so vielfach geschehen ist.




Mark Twain im heiligen Lande.*)

Die "Neue Pilgerfahrt" ist die Fortsetzung der "Arglosen auf Reisen", die
wir vorige Wochen in diesem Blatte angezeigt haben. Der Autor erzählt
uns hier, wie er mit den "Pilgrimen", dem "Orakel", dem "lorbeergekrönten
Dichter", Jack und andern komischen Käuzen von Neapel nach dem Piräus,
von dort nach Stambul, Odessa, Sebastopol und dem kaiserlichen Sommersitz
in der Krim, dann nach Smyrna und von hier nach Beirut fährt, von wo



") Die neue Pilgerfahrt. Von Mark Twam. Nebcrscht von Montz Busch. Fünfter Band
der Amerikanischen Humoristen. Leipzig, F. W. Grunow, t87ü.

Abstraktion so weit treibt, daß man von einer Allerweltsbühne träumt, von
welcher die Bühne jedes einzelnen Volkes nur eine neue Auflage sein soll,
natürlich womöglich eine verbesserte. Dann muß es natürlich von vorn herein
als ausgemacht gelten, daß die Bühne überall dieselbe Geschichte, dieselbe
Entwicklung hat. Daß in dem Wesen des Dramas gewisse Momente enthalten
sind, über die sich kein Drama und keine Bühne hinwegsetzen kann, wird zu
einer Bedeutung hinaufgeschraubt, als wenn sich nunmehr auch alle Bühnen
nach der Schablone entwickeln müßten. Da kann es denn gar nicht aus¬
bleiben , daß auch alles rein schablonenmäßig beurtheilt wird. Nach der
Schablone werden die einzelnen Produkte dramatischen Schaffens abgeurtheilt,
und nach der Schablone wird der Bühne im Ganzen eine zukünftige Blüthe oder
ein drohender Verfall geweissagt. Hierüber fällt die Kritik der Verknöcherung
anheim, und der Streit um Gedeihen oder Verfall der Bühne wird zu einem
ganz oberflächlichen Wortgefecht.

Darum rathe ich, daß wir uns der Abstraktionen entschlagen, wenn wir
vom Theater sprechen, und daß wir die Verhältnisse so concret als möglich
in's Auge fassen. Um dazu den Anstoß zu geben, habe ich auf den Unterschied
von Volkstheater und Kunstbühne aufmerksam machen wollen. Ich habe,
gezeigt, daß es Volkstheater im niedrigeren und im edelsten Sinne geben
kann. So kann es auch bei den Kunstbühnen Unterschiede geben, und die
Verbindung von Volkstheater und Kunstbühne kann eine sehr mannigfaltige
sein. Kurz, wenn wir nur genau zusehen wollen, so werden sich uns Unter¬
schiede der mannigfaltigsten Art zwischen den Bühnen bemerklich machen, und
wir werden davon abkommen, immer nur von dem Abstraktum „Bühne" in
so verwirrender und zu schiefen Urtheilen führender Art zu reden, wie es
bisher so vielfach geschehen ist.




Mark Twain im heiligen Lande.*)

Die „Neue Pilgerfahrt" ist die Fortsetzung der „Arglosen auf Reisen", die
wir vorige Wochen in diesem Blatte angezeigt haben. Der Autor erzählt
uns hier, wie er mit den „Pilgrimen", dem „Orakel", dem „lorbeergekrönten
Dichter", Jack und andern komischen Käuzen von Neapel nach dem Piräus,
von dort nach Stambul, Odessa, Sebastopol und dem kaiserlichen Sommersitz
in der Krim, dann nach Smyrna und von hier nach Beirut fährt, von wo



") Die neue Pilgerfahrt. Von Mark Twam. Nebcrscht von Montz Busch. Fünfter Band
der Amerikanischen Humoristen. Leipzig, F. W. Grunow, t87ü.
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[0261] Abstraktion so weit treibt, daß man von einer Allerweltsbühne träumt, von welcher die Bühne jedes einzelnen Volkes nur eine neue Auflage sein soll, natürlich womöglich eine verbesserte. Dann muß es natürlich von vorn herein als ausgemacht gelten, daß die Bühne überall dieselbe Geschichte, dieselbe Entwicklung hat. Daß in dem Wesen des Dramas gewisse Momente enthalten sind, über die sich kein Drama und keine Bühne hinwegsetzen kann, wird zu einer Bedeutung hinaufgeschraubt, als wenn sich nunmehr auch alle Bühnen nach der Schablone entwickeln müßten. Da kann es denn gar nicht aus¬ bleiben , daß auch alles rein schablonenmäßig beurtheilt wird. Nach der Schablone werden die einzelnen Produkte dramatischen Schaffens abgeurtheilt, und nach der Schablone wird der Bühne im Ganzen eine zukünftige Blüthe oder ein drohender Verfall geweissagt. Hierüber fällt die Kritik der Verknöcherung anheim, und der Streit um Gedeihen oder Verfall der Bühne wird zu einem ganz oberflächlichen Wortgefecht. Darum rathe ich, daß wir uns der Abstraktionen entschlagen, wenn wir vom Theater sprechen, und daß wir die Verhältnisse so concret als möglich in's Auge fassen. Um dazu den Anstoß zu geben, habe ich auf den Unterschied von Volkstheater und Kunstbühne aufmerksam machen wollen. Ich habe, gezeigt, daß es Volkstheater im niedrigeren und im edelsten Sinne geben kann. So kann es auch bei den Kunstbühnen Unterschiede geben, und die Verbindung von Volkstheater und Kunstbühne kann eine sehr mannigfaltige sein. Kurz, wenn wir nur genau zusehen wollen, so werden sich uns Unter¬ schiede der mannigfaltigsten Art zwischen den Bühnen bemerklich machen, und wir werden davon abkommen, immer nur von dem Abstraktum „Bühne" in so verwirrender und zu schiefen Urtheilen führender Art zu reden, wie es bisher so vielfach geschehen ist. Mark Twain im heiligen Lande.*) Die „Neue Pilgerfahrt" ist die Fortsetzung der „Arglosen auf Reisen", die wir vorige Wochen in diesem Blatte angezeigt haben. Der Autor erzählt uns hier, wie er mit den „Pilgrimen", dem „Orakel", dem „lorbeergekrönten Dichter", Jack und andern komischen Käuzen von Neapel nach dem Piräus, von dort nach Stambul, Odessa, Sebastopol und dem kaiserlichen Sommersitz in der Krim, dann nach Smyrna und von hier nach Beirut fährt, von wo ") Die neue Pilgerfahrt. Von Mark Twam. Nebcrscht von Montz Busch. Fünfter Band der Amerikanischen Humoristen. Leipzig, F. W. Grunow, t87ü.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/261>, abgerufen am 26.06.2024.