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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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steht jede Farbe der Diktion zu Gebote, deren sich zu bedienen er Veranlassung
hat, vom höchsten Adel der Sprache bis zur possenhaftesten Grobmalerei.
Und wovon er nun auch Gebrauch macht, man kann immer sicher sein, daß
es nur als sehr wohl berechnetes Mittel einem vollkommen künstlerischen
Zwecke dient.

Die alte attische Komödie ist in ihren reifsten Erscheinungen ein durch¬
aus gehaltvolles, immer auf das Ganze des Volkslebens und der Staatsver¬
waltung gerichtetes, also stets ins Große gearbeitetes und dabei höchst geist¬
volles und hochpoetisches Gebilde, ein Kunstwerk im wahrsten Sinne des
Wortes. Sie bekundet eine eminente Blüthe der dramatischen Kunst. Nicht
daß die Zeit, in der wir sie finden, eine Zeit der Zersetzung war, hat sie
möglich gemacht, sondern daß diese Zeit trotz aller Zersetzung noch immer eine
bedeutsame und im höchsten Grade fruchtbare und anregende war.

Blickt man nun auf das, was die Attiker im Laufe eines Jahrhunderts
sowohl auf dem Gebiet der Tragödie, als der Komödie geschaffen haben, und
zwar nicht nach Vorbildern, sondern mit originellster Schöpferkraft aus der
Fülle ihrer reichen Begabung, so wird man nicht in Abrede stellen können,
daß das Theater zu Athen eine Kunstbühne der auserlesensten Arr war,
und man wird nicht umhin können, in den Lessing'schen Ausspruch einzu¬
stimmen: "Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben."

Und nun wollten wir es wagen, unser "Theater", diesen abstrakten Be¬
griff, der nichts ist als ein leerer, inhaltsloser Gesammtname für eine ganze
Unmasse von Bühnengattungen der verschiedensten Art, mit dieser seltenen
und in ihrer Art so einzigen Vereinigung von Volkstheater und Kunstbühne
auf eine Linie zu stellen und die Geschicke unsers Abstraktums von Theater
nach den Geschicken der attischen Bühne zu bemessen?

Bedarf es etwa einer weiteren Ausführung des Gedankens, daß es nicht
eine einzige Bühne bei uns giebt, welche sich mit der attischen auch nur im
aller entferntesten messen könnte, auch die allerpretensiösesten der Hoftheater
nicht ausgenommen? Und trotz alledem spricht man von unserm Abstraktum
von "Theater" immer, als wenn es der Inbegriff von Volksbildungsanstalt
und zugleich Kunstinstitut wäre, und überträgt diese hohe Vorstellung in aller
Seelenruhe, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, "uf alle die Institute,
wo man sich damit abgiebt, Komödie zu spielen. Mit hochtrabenden Worten
feiert man sie alle als Kunsttempel. Als den Musen geweiht betrachtet man
sie alle. Künstler und Künstlerinnen heißen sie selbstverständlich alle, welche
die geheiligten Bretter irgend eines solchen Kunsttempels betreten, und Kunst¬
genüsse müssen es überall sein, die uns da geboten werden. Mit Hülse eines
bewunderungswürdigen Abstraktionsvermögens abstrahiren wir von den sämmt¬
lichen unangenehmen Qualitäten, welche den einzelnen Theatern oft einen so


steht jede Farbe der Diktion zu Gebote, deren sich zu bedienen er Veranlassung
hat, vom höchsten Adel der Sprache bis zur possenhaftesten Grobmalerei.
Und wovon er nun auch Gebrauch macht, man kann immer sicher sein, daß
es nur als sehr wohl berechnetes Mittel einem vollkommen künstlerischen
Zwecke dient.

Die alte attische Komödie ist in ihren reifsten Erscheinungen ein durch¬
aus gehaltvolles, immer auf das Ganze des Volkslebens und der Staatsver¬
waltung gerichtetes, also stets ins Große gearbeitetes und dabei höchst geist¬
volles und hochpoetisches Gebilde, ein Kunstwerk im wahrsten Sinne des
Wortes. Sie bekundet eine eminente Blüthe der dramatischen Kunst. Nicht
daß die Zeit, in der wir sie finden, eine Zeit der Zersetzung war, hat sie
möglich gemacht, sondern daß diese Zeit trotz aller Zersetzung noch immer eine
bedeutsame und im höchsten Grade fruchtbare und anregende war.

Blickt man nun auf das, was die Attiker im Laufe eines Jahrhunderts
sowohl auf dem Gebiet der Tragödie, als der Komödie geschaffen haben, und
zwar nicht nach Vorbildern, sondern mit originellster Schöpferkraft aus der
Fülle ihrer reichen Begabung, so wird man nicht in Abrede stellen können,
daß das Theater zu Athen eine Kunstbühne der auserlesensten Arr war,
und man wird nicht umhin können, in den Lessing'schen Ausspruch einzu¬
stimmen: „Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben."

Und nun wollten wir es wagen, unser „Theater", diesen abstrakten Be¬
griff, der nichts ist als ein leerer, inhaltsloser Gesammtname für eine ganze
Unmasse von Bühnengattungen der verschiedensten Art, mit dieser seltenen
und in ihrer Art so einzigen Vereinigung von Volkstheater und Kunstbühne
auf eine Linie zu stellen und die Geschicke unsers Abstraktums von Theater
nach den Geschicken der attischen Bühne zu bemessen?

Bedarf es etwa einer weiteren Ausführung des Gedankens, daß es nicht
eine einzige Bühne bei uns giebt, welche sich mit der attischen auch nur im
aller entferntesten messen könnte, auch die allerpretensiösesten der Hoftheater
nicht ausgenommen? Und trotz alledem spricht man von unserm Abstraktum
von „Theater" immer, als wenn es der Inbegriff von Volksbildungsanstalt
und zugleich Kunstinstitut wäre, und überträgt diese hohe Vorstellung in aller
Seelenruhe, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, «uf alle die Institute,
wo man sich damit abgiebt, Komödie zu spielen. Mit hochtrabenden Worten
feiert man sie alle als Kunsttempel. Als den Musen geweiht betrachtet man
sie alle. Künstler und Künstlerinnen heißen sie selbstverständlich alle, welche
die geheiligten Bretter irgend eines solchen Kunsttempels betreten, und Kunst¬
genüsse müssen es überall sein, die uns da geboten werden. Mit Hülse eines
bewunderungswürdigen Abstraktionsvermögens abstrahiren wir von den sämmt¬
lichen unangenehmen Qualitäten, welche den einzelnen Theatern oft einen so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/259>, abgerufen am 26.06.2024.