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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Tage mit unwiderstehlicher Dringlichkeit an jedes größere Gemeinwesen heran¬
treten, nicht erspart: Stadterweiterung, Wasserleitung, Canalisation, neue
Friedhofsbauten und andere unabweisbare Bedürfnisse, von denen frühere
Geschlechter kaum eine dunkele Ahnung hatten, spielen auch bei uns, diesseits
und jenseits, eine große Rolle, vermehren die Schulden und erhöhen die
Gemeindeabgaben. Oft entfesseln solche locale Angelegenheiten mehr als große
Politische Weltfragen die Leidenschaften der Bevölkerung und mancher Bürger¬
meister einer mittleren Stadt ist in seinem Amte härter gebettet als der erste
Minister eines Großstaats. So sind auch unsere jetzigen "Väter der Stadt"
um ihre würdevollen Posten nicht zu beneiden; indessen wird eine spätere
Zeit ihren Bestrebungen und Schöpfungen gewiß mehr Gerechtigkeit wider¬
fahren lassen als die Gegenwart; denn so viel auch noch zu wünschen übrig
bleibt, die Thatsache steht eben doch fest, daß unter ihrer Verwaltung beide
Städte einen außerordentlichen Aufschwung genommen haben und
"noch fortwährend in erfreulichem Wachsthum und sichtlicher Verschönerung
begriffen sind. Gotha hat den Vorzug der größeren, belebteren, verkehrs¬
reicheren, Coburg den der freundlicheren, behaglicheren Stadt. Während
Gotha's Naturschönheiten (wer kennt nicht das herrliche Reinhardtsbrunn,
Großtabarz und den Jnselsberg?) drei bis vier Stunden abseits liegen,
beginnen Coburgs reizende Umgebungen dicht vor den Thoren und laden
tagtäglich zu neuen genußreichen Gängen ein. Was landschaftliche Lieblich¬
keit betrifft, gehört Coburg zu den begünstigtsten Städten Deutschlands.
Dadurch hat es seiner nordischen Schwester, die eigentlich viel früher eine
"Fremdeneolonie" besaß, in der Anziehung auswärtigen Zuzugs nach und
nach den Rang abgelaufen. Seitdem es durch die Werrabahn zugänglicher
geworden und seitdem auch für die preußischen Pensionäre Freizügig¬
keit durch ganz Deutschland besteht, so daß dieselben ihre Ruhegehalte ohne
Abzug im ganzen Reiche verzehren dürfen, macht Coburg der Schlesischen
"Pensionopolis", Görlitz genannt, erfolgreich Concurrenz. Allein an zehn
Generäle haben ihren Sitz hier aufgeschlagen, fast jede neue Villa, welche
aus grünem Garten freundlich herüber lacht, gehört einem Stabsoffizier a. D.,
und das muß selbst der Neid anerkennen: man weiß in Coburg im Allgemeinen
besser und schöner zu bauen als in Gotha.

Der Massenzufluß pensionirter Militärs und ihrer Familien kann auf
das gesellschaftliche Leben einer Stadt von kaum 1S000 Seelen nicht ohne
Einfluß bleiben, und in der That hört man über die Jmportirung von An¬
schauungen, Ansprüchen und Lebensgewohnheiten klagen, welche dem einfach
bürgerlichen Sinne der Einwohner nicht sympathisch sind. Auch der geistige
Verkehr soll bis jetzt durch die Einwanderung wenig gewonnen haben. Die
Häuserbesitzer aber und die Gewerbtreibenden aller Art finden bei den an


Grenzl'oder III. 187S. 24

Tage mit unwiderstehlicher Dringlichkeit an jedes größere Gemeinwesen heran¬
treten, nicht erspart: Stadterweiterung, Wasserleitung, Canalisation, neue
Friedhofsbauten und andere unabweisbare Bedürfnisse, von denen frühere
Geschlechter kaum eine dunkele Ahnung hatten, spielen auch bei uns, diesseits
und jenseits, eine große Rolle, vermehren die Schulden und erhöhen die
Gemeindeabgaben. Oft entfesseln solche locale Angelegenheiten mehr als große
Politische Weltfragen die Leidenschaften der Bevölkerung und mancher Bürger¬
meister einer mittleren Stadt ist in seinem Amte härter gebettet als der erste
Minister eines Großstaats. So sind auch unsere jetzigen „Väter der Stadt"
um ihre würdevollen Posten nicht zu beneiden; indessen wird eine spätere
Zeit ihren Bestrebungen und Schöpfungen gewiß mehr Gerechtigkeit wider¬
fahren lassen als die Gegenwart; denn so viel auch noch zu wünschen übrig
bleibt, die Thatsache steht eben doch fest, daß unter ihrer Verwaltung beide
Städte einen außerordentlichen Aufschwung genommen haben und
»noch fortwährend in erfreulichem Wachsthum und sichtlicher Verschönerung
begriffen sind. Gotha hat den Vorzug der größeren, belebteren, verkehrs¬
reicheren, Coburg den der freundlicheren, behaglicheren Stadt. Während
Gotha's Naturschönheiten (wer kennt nicht das herrliche Reinhardtsbrunn,
Großtabarz und den Jnselsberg?) drei bis vier Stunden abseits liegen,
beginnen Coburgs reizende Umgebungen dicht vor den Thoren und laden
tagtäglich zu neuen genußreichen Gängen ein. Was landschaftliche Lieblich¬
keit betrifft, gehört Coburg zu den begünstigtsten Städten Deutschlands.
Dadurch hat es seiner nordischen Schwester, die eigentlich viel früher eine
„Fremdeneolonie" besaß, in der Anziehung auswärtigen Zuzugs nach und
nach den Rang abgelaufen. Seitdem es durch die Werrabahn zugänglicher
geworden und seitdem auch für die preußischen Pensionäre Freizügig¬
keit durch ganz Deutschland besteht, so daß dieselben ihre Ruhegehalte ohne
Abzug im ganzen Reiche verzehren dürfen, macht Coburg der Schlesischen
„Pensionopolis", Görlitz genannt, erfolgreich Concurrenz. Allein an zehn
Generäle haben ihren Sitz hier aufgeschlagen, fast jede neue Villa, welche
aus grünem Garten freundlich herüber lacht, gehört einem Stabsoffizier a. D.,
und das muß selbst der Neid anerkennen: man weiß in Coburg im Allgemeinen
besser und schöner zu bauen als in Gotha.

Der Massenzufluß pensionirter Militärs und ihrer Familien kann auf
das gesellschaftliche Leben einer Stadt von kaum 1S000 Seelen nicht ohne
Einfluß bleiben, und in der That hört man über die Jmportirung von An¬
schauungen, Ansprüchen und Lebensgewohnheiten klagen, welche dem einfach
bürgerlichen Sinne der Einwohner nicht sympathisch sind. Auch der geistige
Verkehr soll bis jetzt durch die Einwanderung wenig gewonnen haben. Die
Häuserbesitzer aber und die Gewerbtreibenden aller Art finden bei den an


Grenzl'oder III. 187S. 24
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[0193] Tage mit unwiderstehlicher Dringlichkeit an jedes größere Gemeinwesen heran¬ treten, nicht erspart: Stadterweiterung, Wasserleitung, Canalisation, neue Friedhofsbauten und andere unabweisbare Bedürfnisse, von denen frühere Geschlechter kaum eine dunkele Ahnung hatten, spielen auch bei uns, diesseits und jenseits, eine große Rolle, vermehren die Schulden und erhöhen die Gemeindeabgaben. Oft entfesseln solche locale Angelegenheiten mehr als große Politische Weltfragen die Leidenschaften der Bevölkerung und mancher Bürger¬ meister einer mittleren Stadt ist in seinem Amte härter gebettet als der erste Minister eines Großstaats. So sind auch unsere jetzigen „Väter der Stadt" um ihre würdevollen Posten nicht zu beneiden; indessen wird eine spätere Zeit ihren Bestrebungen und Schöpfungen gewiß mehr Gerechtigkeit wider¬ fahren lassen als die Gegenwart; denn so viel auch noch zu wünschen übrig bleibt, die Thatsache steht eben doch fest, daß unter ihrer Verwaltung beide Städte einen außerordentlichen Aufschwung genommen haben und »noch fortwährend in erfreulichem Wachsthum und sichtlicher Verschönerung begriffen sind. Gotha hat den Vorzug der größeren, belebteren, verkehrs¬ reicheren, Coburg den der freundlicheren, behaglicheren Stadt. Während Gotha's Naturschönheiten (wer kennt nicht das herrliche Reinhardtsbrunn, Großtabarz und den Jnselsberg?) drei bis vier Stunden abseits liegen, beginnen Coburgs reizende Umgebungen dicht vor den Thoren und laden tagtäglich zu neuen genußreichen Gängen ein. Was landschaftliche Lieblich¬ keit betrifft, gehört Coburg zu den begünstigtsten Städten Deutschlands. Dadurch hat es seiner nordischen Schwester, die eigentlich viel früher eine „Fremdeneolonie" besaß, in der Anziehung auswärtigen Zuzugs nach und nach den Rang abgelaufen. Seitdem es durch die Werrabahn zugänglicher geworden und seitdem auch für die preußischen Pensionäre Freizügig¬ keit durch ganz Deutschland besteht, so daß dieselben ihre Ruhegehalte ohne Abzug im ganzen Reiche verzehren dürfen, macht Coburg der Schlesischen „Pensionopolis", Görlitz genannt, erfolgreich Concurrenz. Allein an zehn Generäle haben ihren Sitz hier aufgeschlagen, fast jede neue Villa, welche aus grünem Garten freundlich herüber lacht, gehört einem Stabsoffizier a. D., und das muß selbst der Neid anerkennen: man weiß in Coburg im Allgemeinen besser und schöner zu bauen als in Gotha. Der Massenzufluß pensionirter Militärs und ihrer Familien kann auf das gesellschaftliche Leben einer Stadt von kaum 1S000 Seelen nicht ohne Einfluß bleiben, und in der That hört man über die Jmportirung von An¬ schauungen, Ansprüchen und Lebensgewohnheiten klagen, welche dem einfach bürgerlichen Sinne der Einwohner nicht sympathisch sind. Auch der geistige Verkehr soll bis jetzt durch die Einwanderung wenig gewonnen haben. Die Häuserbesitzer aber und die Gewerbtreibenden aller Art finden bei den an Grenzl'oder III. 187S. 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/193>, abgerufen am 29.06.2024.