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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Sangeskunst zu üben. Kein deutsches Volk zeigte sich ferner so anerkennend
gegen fremde Kunst und Gelehrsamkeit, keines so begierig und befähigt, sie
zu erlernen, wie die Gothen. An Berührungen mit dem römischen Reiche
fehlte es nicht. Dieselben waren anfangs feindlicher Natur und bestanden in
zahlreichen Streifzügen der abenteuer- und beutelustigen gothischen Krieger.
Diese setzten über die Donau und Propontis und drangen in Kleinasien bis
Ephesus und Kappadocien und an den Küsten Griechenlands bis Sparta vor.
Der Kaiser Decius hatte im Kampfe gegen sie sein Leben verloren. Dem
Kaiser Claudius glückte es zwar, die Schaaren derselben zu zerstreuen und sich
mit dem Ehrennamen Gothicus zu schmücken, aber bald darauf erlag er
einer Seuche. Erst Aurelian vermochte sie für längere Zeit über die Donau
zurückzudrängen. Wichtiger waren die vielfachen freundschaftlichen Beziehungen,
die zwischen ihnen und den Römern obwalteten. Schon früh traten kriegs¬
lustige Gothen in römische Heere, und gegen Ende des 3. Jahrhunderts
dienten viele unter Diocletian gegen die Perser. Besonders aber nachdem
Byzanz zur zweiten Hauptstadt des Reichs erhoben worden war, mehrte sich
dieser Verkehr und ging gewiß auch auf andere Lebensgebiete als die des
Krieges über.

Unsere Vorfahren, die in jener Zeit trotz nachhaltiger Arbeit doch nur
die nothwendigsten Bedürfnisse den rauhen Landstrichen abzugewinnen ver¬
mochten, die sie bewohnten, wurden mächtig angelockt durch die herrlichen frucht¬
reichen Gegenden des Südens, die prachtvollen Städte der Römer und Grie¬
chen und den bis dahin ungeahnten Glanz des römischen Kaiserthums. Ein¬
zeln oder in Schaaren, aus freiem Antrieb oder geworben wanderten sie in
die Hauptstädte des Römerreiches, bis sie die Sättigung an den neuen Ein¬
drücken und die Sehnsucht nach heimischem Heerd und Hain in das Vater¬
land zurückführte. Aber die märchenhaften Berichte von der fernen Wun¬
derwelt trieben Andere in die Fremde, und so wurde römische Bildung jen¬
seits der Donau immer bekannter, wenn auch nicht in ihrem Zusammenhange
begriffen.

Unter diesen Umständen erblickte Ulfilas 311 n. Eh. im Lande der West-
"other das Licht der Welt. Schon der echt deutsche Name, welcher Wölflein
bedeutet, bekundet die deutsche Abstammung des Knaben. *) Wie Könige und
Helden seines Volks, ein Adaulf. Wolfing, Wolfsart, nach dem Wolf, dem
streitbaren Thiere des Odin, genannt wurden, so auch er. Er gehörte einer



') Nach dem unzuverlässigen Philostorgius freilich sollen die Eltern des Ulfilas von den
Gotycn geraubte Christen ans Sadagolthina bei der Stadt Pamassus in Kappadocien sein.
Vgl. iedoch Bessell S. >>7 ff. nu ff. und die Dissertation von Södermann bei Büsching. Es
liegt hier eine absichtliche Verdrehung und Verwechselung mit andern Beziehungen gothischer
Christen zu Kappadocien vor.

Sangeskunst zu üben. Kein deutsches Volk zeigte sich ferner so anerkennend
gegen fremde Kunst und Gelehrsamkeit, keines so begierig und befähigt, sie
zu erlernen, wie die Gothen. An Berührungen mit dem römischen Reiche
fehlte es nicht. Dieselben waren anfangs feindlicher Natur und bestanden in
zahlreichen Streifzügen der abenteuer- und beutelustigen gothischen Krieger.
Diese setzten über die Donau und Propontis und drangen in Kleinasien bis
Ephesus und Kappadocien und an den Küsten Griechenlands bis Sparta vor.
Der Kaiser Decius hatte im Kampfe gegen sie sein Leben verloren. Dem
Kaiser Claudius glückte es zwar, die Schaaren derselben zu zerstreuen und sich
mit dem Ehrennamen Gothicus zu schmücken, aber bald darauf erlag er
einer Seuche. Erst Aurelian vermochte sie für längere Zeit über die Donau
zurückzudrängen. Wichtiger waren die vielfachen freundschaftlichen Beziehungen,
die zwischen ihnen und den Römern obwalteten. Schon früh traten kriegs¬
lustige Gothen in römische Heere, und gegen Ende des 3. Jahrhunderts
dienten viele unter Diocletian gegen die Perser. Besonders aber nachdem
Byzanz zur zweiten Hauptstadt des Reichs erhoben worden war, mehrte sich
dieser Verkehr und ging gewiß auch auf andere Lebensgebiete als die des
Krieges über.

Unsere Vorfahren, die in jener Zeit trotz nachhaltiger Arbeit doch nur
die nothwendigsten Bedürfnisse den rauhen Landstrichen abzugewinnen ver¬
mochten, die sie bewohnten, wurden mächtig angelockt durch die herrlichen frucht¬
reichen Gegenden des Südens, die prachtvollen Städte der Römer und Grie¬
chen und den bis dahin ungeahnten Glanz des römischen Kaiserthums. Ein¬
zeln oder in Schaaren, aus freiem Antrieb oder geworben wanderten sie in
die Hauptstädte des Römerreiches, bis sie die Sättigung an den neuen Ein¬
drücken und die Sehnsucht nach heimischem Heerd und Hain in das Vater¬
land zurückführte. Aber die märchenhaften Berichte von der fernen Wun¬
derwelt trieben Andere in die Fremde, und so wurde römische Bildung jen¬
seits der Donau immer bekannter, wenn auch nicht in ihrem Zusammenhange
begriffen.

Unter diesen Umständen erblickte Ulfilas 311 n. Eh. im Lande der West-
»other das Licht der Welt. Schon der echt deutsche Name, welcher Wölflein
bedeutet, bekundet die deutsche Abstammung des Knaben. *) Wie Könige und
Helden seines Volks, ein Adaulf. Wolfing, Wolfsart, nach dem Wolf, dem
streitbaren Thiere des Odin, genannt wurden, so auch er. Er gehörte einer



') Nach dem unzuverlässigen Philostorgius freilich sollen die Eltern des Ulfilas von den
Gotycn geraubte Christen ans Sadagolthina bei der Stadt Pamassus in Kappadocien sein.
Vgl. iedoch Bessell S. >>7 ff. nu ff. und die Dissertation von Södermann bei Büsching. Es
liegt hier eine absichtliche Verdrehung und Verwechselung mit andern Beziehungen gothischer
Christen zu Kappadocien vor.
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[0007] Sangeskunst zu üben. Kein deutsches Volk zeigte sich ferner so anerkennend gegen fremde Kunst und Gelehrsamkeit, keines so begierig und befähigt, sie zu erlernen, wie die Gothen. An Berührungen mit dem römischen Reiche fehlte es nicht. Dieselben waren anfangs feindlicher Natur und bestanden in zahlreichen Streifzügen der abenteuer- und beutelustigen gothischen Krieger. Diese setzten über die Donau und Propontis und drangen in Kleinasien bis Ephesus und Kappadocien und an den Küsten Griechenlands bis Sparta vor. Der Kaiser Decius hatte im Kampfe gegen sie sein Leben verloren. Dem Kaiser Claudius glückte es zwar, die Schaaren derselben zu zerstreuen und sich mit dem Ehrennamen Gothicus zu schmücken, aber bald darauf erlag er einer Seuche. Erst Aurelian vermochte sie für längere Zeit über die Donau zurückzudrängen. Wichtiger waren die vielfachen freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen ihnen und den Römern obwalteten. Schon früh traten kriegs¬ lustige Gothen in römische Heere, und gegen Ende des 3. Jahrhunderts dienten viele unter Diocletian gegen die Perser. Besonders aber nachdem Byzanz zur zweiten Hauptstadt des Reichs erhoben worden war, mehrte sich dieser Verkehr und ging gewiß auch auf andere Lebensgebiete als die des Krieges über. Unsere Vorfahren, die in jener Zeit trotz nachhaltiger Arbeit doch nur die nothwendigsten Bedürfnisse den rauhen Landstrichen abzugewinnen ver¬ mochten, die sie bewohnten, wurden mächtig angelockt durch die herrlichen frucht¬ reichen Gegenden des Südens, die prachtvollen Städte der Römer und Grie¬ chen und den bis dahin ungeahnten Glanz des römischen Kaiserthums. Ein¬ zeln oder in Schaaren, aus freiem Antrieb oder geworben wanderten sie in die Hauptstädte des Römerreiches, bis sie die Sättigung an den neuen Ein¬ drücken und die Sehnsucht nach heimischem Heerd und Hain in das Vater¬ land zurückführte. Aber die märchenhaften Berichte von der fernen Wun¬ derwelt trieben Andere in die Fremde, und so wurde römische Bildung jen¬ seits der Donau immer bekannter, wenn auch nicht in ihrem Zusammenhange begriffen. Unter diesen Umständen erblickte Ulfilas 311 n. Eh. im Lande der West- »other das Licht der Welt. Schon der echt deutsche Name, welcher Wölflein bedeutet, bekundet die deutsche Abstammung des Knaben. *) Wie Könige und Helden seines Volks, ein Adaulf. Wolfing, Wolfsart, nach dem Wolf, dem streitbaren Thiere des Odin, genannt wurden, so auch er. Er gehörte einer ') Nach dem unzuverlässigen Philostorgius freilich sollen die Eltern des Ulfilas von den Gotycn geraubte Christen ans Sadagolthina bei der Stadt Pamassus in Kappadocien sein. Vgl. iedoch Bessell S. >>7 ff. nu ff. und die Dissertation von Södermann bei Büsching. Es liegt hier eine absichtliche Verdrehung und Verwechselung mit andern Beziehungen gothischer Christen zu Kappadocien vor.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/7>, abgerufen am 26.06.2024.