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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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und Abhandlungen über den Gegenstand losgelassen , aber niemals hat man
die Freiheiten geachtet, nicht einmal die heiligste von allen, die Gewissens¬
freiheit. Die Puritaner und Quäker haben sie proclamirt und seit zwei¬
hundert Jahren in Amerika ausgeübt , und von da sowie aus England hat
Europa sie gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts empfangen. Schon
1K20 stellte die Verfassung von Virginien die Repräsentativregierung, das
Schwurgericht und den Grundsatz fest, daß die Steuern nur von denen be¬
willigt werden können, die sie bezahlen. Von allem Anfang an richtet Massa¬
chusetts den Schulzwang und die Trennung der Kirche vom Staate ein (die
wir Deutschen nicht brauchen können, so lange der Wille des Papstes für die
Mehrzahl der Katholiken die Stelle des Gewissens ausfüllt). Die verschiedenen
Seelen leben frei unter dem gemeinschaftlichen Gesetze und wählen sich ihre
Seelsorger selbst. Die repräsentative Demokratie existirt hier schon damals so voll¬
ständig wie in unsern Tagen. Selbst die Richter werden von den Bürgern alljährlich
neu gewählt. Ein Mann tritt auf (1633), der nicht nur die Duldung, son¬
dern die vollständige Gleichheit der Culte vor dem Gesetz fordert und auf
dieses Prinzip hin einen Staat gründet. Es ist Roger Williams, der unter
die Wohlthäter der Menschheit eingereiht zu werden verdient. Nach mehr
"is einem Jahrtausend blutiger Verfolgungen um der Religion willen, erhebt
^' noch vor der Zeit, wo Descartes die freie Forschung aus dem Gebiete der
Philosophie beansprucht, die Glaubensfreiheit zum politischen Rechte. "Die
Verfolgung in Gewissenssachen ist", so sagt er wiederholt, "ein offener und
beklagenswerther Widerspruch gegen die Lehre Jesu Christi."-- "Der, wel¬
cher das Staatsschiff lenkt, kann die Ordnung an Bord erhalten und es nach
den Hafen führen, wenn auch die ganze Mannschaft nicht verpflichtet ist, dem
Gottesdienste beizuwohnen." -- "Die bürgerliche Obrigkeit hat nur Macht
über die Leiber und Güter der Menschen, sie darf sich nicht in Glaubenssachen
mischen, selbst da nicht, wo es zu verhindern gilt, daß eine Kirche in Abfall
und Ketzerei versinkt." -- "Das Joch der Tyrannei von den Seelen nehmen,
heißt nicht nur eine Pflicht der Gerechtigkeit gegen die unterdrückten Völker
erfüllen, sondern auch die Freiheit und den öffentlichen Frieden im Interesse
des Gewissens Aller herstellen." Auf diesen, damals nur noch in den Nieder¬
landen bekannten und theilweise verwirklichten Grundgedanken gründete,
wie man bei Bancroft nachlesen kann, Roger Williams die Stadt Providence
und die bürgerliche Gesellschaft, aus der später der Staat Rhode Island her¬
vorging. Es war die reine Demokratie, wie sie Rousseau verstand, das radi-
calste Selfgovernment, welches die Menschheit bis dahin gesehen, welches aber
wohlverstanden sich nur in Kleinstaaten durchführen und aufrecht erhalten läßt,
die durch ihre Lage vor Vergewaltigung von außen her geschützt sind.

Auf ähnlichen Grundsätzen baute um dieselbe Zeit der protestantische


und Abhandlungen über den Gegenstand losgelassen , aber niemals hat man
die Freiheiten geachtet, nicht einmal die heiligste von allen, die Gewissens¬
freiheit. Die Puritaner und Quäker haben sie proclamirt und seit zwei¬
hundert Jahren in Amerika ausgeübt , und von da sowie aus England hat
Europa sie gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts empfangen. Schon
1K20 stellte die Verfassung von Virginien die Repräsentativregierung, das
Schwurgericht und den Grundsatz fest, daß die Steuern nur von denen be¬
willigt werden können, die sie bezahlen. Von allem Anfang an richtet Massa¬
chusetts den Schulzwang und die Trennung der Kirche vom Staate ein (die
wir Deutschen nicht brauchen können, so lange der Wille des Papstes für die
Mehrzahl der Katholiken die Stelle des Gewissens ausfüllt). Die verschiedenen
Seelen leben frei unter dem gemeinschaftlichen Gesetze und wählen sich ihre
Seelsorger selbst. Die repräsentative Demokratie existirt hier schon damals so voll¬
ständig wie in unsern Tagen. Selbst die Richter werden von den Bürgern alljährlich
neu gewählt. Ein Mann tritt auf (1633), der nicht nur die Duldung, son¬
dern die vollständige Gleichheit der Culte vor dem Gesetz fordert und auf
dieses Prinzip hin einen Staat gründet. Es ist Roger Williams, der unter
die Wohlthäter der Menschheit eingereiht zu werden verdient. Nach mehr
"is einem Jahrtausend blutiger Verfolgungen um der Religion willen, erhebt
^' noch vor der Zeit, wo Descartes die freie Forschung aus dem Gebiete der
Philosophie beansprucht, die Glaubensfreiheit zum politischen Rechte. „Die
Verfolgung in Gewissenssachen ist", so sagt er wiederholt, „ein offener und
beklagenswerther Widerspruch gegen die Lehre Jesu Christi."— „Der, wel¬
cher das Staatsschiff lenkt, kann die Ordnung an Bord erhalten und es nach
den Hafen führen, wenn auch die ganze Mannschaft nicht verpflichtet ist, dem
Gottesdienste beizuwohnen." — „Die bürgerliche Obrigkeit hat nur Macht
über die Leiber und Güter der Menschen, sie darf sich nicht in Glaubenssachen
mischen, selbst da nicht, wo es zu verhindern gilt, daß eine Kirche in Abfall
und Ketzerei versinkt." — „Das Joch der Tyrannei von den Seelen nehmen,
heißt nicht nur eine Pflicht der Gerechtigkeit gegen die unterdrückten Völker
erfüllen, sondern auch die Freiheit und den öffentlichen Frieden im Interesse
des Gewissens Aller herstellen." Auf diesen, damals nur noch in den Nieder¬
landen bekannten und theilweise verwirklichten Grundgedanken gründete,
wie man bei Bancroft nachlesen kann, Roger Williams die Stadt Providence
und die bürgerliche Gesellschaft, aus der später der Staat Rhode Island her¬
vorging. Es war die reine Demokratie, wie sie Rousseau verstand, das radi-
calste Selfgovernment, welches die Menschheit bis dahin gesehen, welches aber
wohlverstanden sich nur in Kleinstaaten durchführen und aufrecht erhalten läßt,
die durch ihre Lage vor Vergewaltigung von außen her geschützt sind.

Auf ähnlichen Grundsätzen baute um dieselbe Zeit der protestantische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/59>, abgerufen am 22.07.2024.