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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Dieser Vorgänge muß man sich erinnern, um zu verstehen, daß der jetzige,
durch den Abgeordneten Hoffmann eingebrachte Antrag der Fortschrittspartei
unmittelbar gegen den Reichskanzler gerichtet war. Der Antrag bezweckte
eine Abänderung, bezüglich Erweiterung des Artikel 31 der Reichsverfassung
im Sinne der Resolution Hoverbeck. Das Urtheil über den Inhalt ist sehr
bald klar gestellt. Die Parlamente bedürfen des Schutzes ihrer Mit¬
glieder gegen die willkürliche Verhängung gerichtlicher Untersuchung und
Untersuchungshaft. Daß aber die Mitglieder der Parlamente der rechtskräftig
ihnen zuerkannten Strafe entgehen sollen, ist ein unerhörtes Verlangen, das
in der Verfassung keines großen Volkes ein Beispiel findet. Die Befürworter
mußten ihre Beispiele aus Portugal und aus den Verfassungen einiger deut¬
schen Duodezstaaten zusammenlesen, die man nach der Julirevolution anfer¬
tigte, ohne zu wissen, was man that, und deren Unschädlichkeit der Bundestag
verbürgte.

Der Antrag hätte die einmüthige Ablehnung aller nationalen Fraktionen
verdient. Er ist auch in namentlicher Abstimmung von 142 gegen 127 Stim¬
men abgelehnt worden. Aber einzelne Nationalliberale stimmten für den An¬
trag, darunter trauriger und unbegreiflicher Weise Herr v. Forckenbeck. Acht¬
zehn andere Nationalliberale enthielten sich der Abstimmung,^ weil sie mit
Laster den Antrag an die Commission zur Berathung der Reichsjustizgesetze
überweisen wollten, damit diese den Zweck des Antrags in der Strafproze߬
ordnung sicher stelle, da die Abänderung der Reichsverfassung ein ungang¬
barer Weg schien. Diese Nationalliberalen waren also im Grunde für den
Antrag, und genau besehen hat derselbe die Majorität erlangt. Daß dies eine
ernsthafte und kritische Situation ist, liegt auf der Hand.

Inzwischen hat am 8. Dezember die "Provinzial-Correspondenz" einen
Artikel gebracht, der den Ausspruch des Reichskanzlers, er könne ohne Straf¬
bestimmungen gegen Beamte des auswärtigen Amtes die Verantwortlichkeit
der Leitung dieses Amtes nicht länger tragen, dahin erläutert, daß, wenn der
jetzige Reichstag die sogenannten Arnimparagraphen der Strafgesetznovelle ver¬
weigert, die Reichsregierung sowohl um dieser als um anderer unerläßlicher
Bestimmungen willen an die Wähler appelliren will. Die "Provinzial-
Correspondenz" sagt allerdings nicht, daß der jetzige Reichstag eventuell auf¬
gelöst werden wird, was erforderlich sein würde, wenn die Appellation an die
Wähler schon im nächsten Jahre stattfinden sollte. Denn d. Red. hatte Recht,
meinen lapsus memoriae im vorigen Brief bemerklich zu machen: die jetzige
Reichstagssession ist nicht die letzte, sondern die vorletzte ordentliche der lau¬
fenden Legislatur, Immerhin behält sich der Kanzler die Appellation an
die Wähler, wenn auch vielleicht erst für das Jahr 1877 vor. Nimmt also
das Zerwürfniß mit der jetzigen Neichstagsmehrheit seinen Fortgang, so würde


Dieser Vorgänge muß man sich erinnern, um zu verstehen, daß der jetzige,
durch den Abgeordneten Hoffmann eingebrachte Antrag der Fortschrittspartei
unmittelbar gegen den Reichskanzler gerichtet war. Der Antrag bezweckte
eine Abänderung, bezüglich Erweiterung des Artikel 31 der Reichsverfassung
im Sinne der Resolution Hoverbeck. Das Urtheil über den Inhalt ist sehr
bald klar gestellt. Die Parlamente bedürfen des Schutzes ihrer Mit¬
glieder gegen die willkürliche Verhängung gerichtlicher Untersuchung und
Untersuchungshaft. Daß aber die Mitglieder der Parlamente der rechtskräftig
ihnen zuerkannten Strafe entgehen sollen, ist ein unerhörtes Verlangen, das
in der Verfassung keines großen Volkes ein Beispiel findet. Die Befürworter
mußten ihre Beispiele aus Portugal und aus den Verfassungen einiger deut¬
schen Duodezstaaten zusammenlesen, die man nach der Julirevolution anfer¬
tigte, ohne zu wissen, was man that, und deren Unschädlichkeit der Bundestag
verbürgte.

Der Antrag hätte die einmüthige Ablehnung aller nationalen Fraktionen
verdient. Er ist auch in namentlicher Abstimmung von 142 gegen 127 Stim¬
men abgelehnt worden. Aber einzelne Nationalliberale stimmten für den An¬
trag, darunter trauriger und unbegreiflicher Weise Herr v. Forckenbeck. Acht¬
zehn andere Nationalliberale enthielten sich der Abstimmung,^ weil sie mit
Laster den Antrag an die Commission zur Berathung der Reichsjustizgesetze
überweisen wollten, damit diese den Zweck des Antrags in der Strafproze߬
ordnung sicher stelle, da die Abänderung der Reichsverfassung ein ungang¬
barer Weg schien. Diese Nationalliberalen waren also im Grunde für den
Antrag, und genau besehen hat derselbe die Majorität erlangt. Daß dies eine
ernsthafte und kritische Situation ist, liegt auf der Hand.

Inzwischen hat am 8. Dezember die „Provinzial-Correspondenz" einen
Artikel gebracht, der den Ausspruch des Reichskanzlers, er könne ohne Straf¬
bestimmungen gegen Beamte des auswärtigen Amtes die Verantwortlichkeit
der Leitung dieses Amtes nicht länger tragen, dahin erläutert, daß, wenn der
jetzige Reichstag die sogenannten Arnimparagraphen der Strafgesetznovelle ver¬
weigert, die Reichsregierung sowohl um dieser als um anderer unerläßlicher
Bestimmungen willen an die Wähler appelliren will. Die „Provinzial-
Correspondenz" sagt allerdings nicht, daß der jetzige Reichstag eventuell auf¬
gelöst werden wird, was erforderlich sein würde, wenn die Appellation an die
Wähler schon im nächsten Jahre stattfinden sollte. Denn d. Red. hatte Recht,
meinen lapsus memoriae im vorigen Brief bemerklich zu machen: die jetzige
Reichstagssession ist nicht die letzte, sondern die vorletzte ordentliche der lau¬
fenden Legislatur, Immerhin behält sich der Kanzler die Appellation an
die Wähler, wenn auch vielleicht erst für das Jahr 1877 vor. Nimmt also
das Zerwürfniß mit der jetzigen Neichstagsmehrheit seinen Fortgang, so würde


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[0481] Dieser Vorgänge muß man sich erinnern, um zu verstehen, daß der jetzige, durch den Abgeordneten Hoffmann eingebrachte Antrag der Fortschrittspartei unmittelbar gegen den Reichskanzler gerichtet war. Der Antrag bezweckte eine Abänderung, bezüglich Erweiterung des Artikel 31 der Reichsverfassung im Sinne der Resolution Hoverbeck. Das Urtheil über den Inhalt ist sehr bald klar gestellt. Die Parlamente bedürfen des Schutzes ihrer Mit¬ glieder gegen die willkürliche Verhängung gerichtlicher Untersuchung und Untersuchungshaft. Daß aber die Mitglieder der Parlamente der rechtskräftig ihnen zuerkannten Strafe entgehen sollen, ist ein unerhörtes Verlangen, das in der Verfassung keines großen Volkes ein Beispiel findet. Die Befürworter mußten ihre Beispiele aus Portugal und aus den Verfassungen einiger deut¬ schen Duodezstaaten zusammenlesen, die man nach der Julirevolution anfer¬ tigte, ohne zu wissen, was man that, und deren Unschädlichkeit der Bundestag verbürgte. Der Antrag hätte die einmüthige Ablehnung aller nationalen Fraktionen verdient. Er ist auch in namentlicher Abstimmung von 142 gegen 127 Stim¬ men abgelehnt worden. Aber einzelne Nationalliberale stimmten für den An¬ trag, darunter trauriger und unbegreiflicher Weise Herr v. Forckenbeck. Acht¬ zehn andere Nationalliberale enthielten sich der Abstimmung,^ weil sie mit Laster den Antrag an die Commission zur Berathung der Reichsjustizgesetze überweisen wollten, damit diese den Zweck des Antrags in der Strafproze߬ ordnung sicher stelle, da die Abänderung der Reichsverfassung ein ungang¬ barer Weg schien. Diese Nationalliberalen waren also im Grunde für den Antrag, und genau besehen hat derselbe die Majorität erlangt. Daß dies eine ernsthafte und kritische Situation ist, liegt auf der Hand. Inzwischen hat am 8. Dezember die „Provinzial-Correspondenz" einen Artikel gebracht, der den Ausspruch des Reichskanzlers, er könne ohne Straf¬ bestimmungen gegen Beamte des auswärtigen Amtes die Verantwortlichkeit der Leitung dieses Amtes nicht länger tragen, dahin erläutert, daß, wenn der jetzige Reichstag die sogenannten Arnimparagraphen der Strafgesetznovelle ver¬ weigert, die Reichsregierung sowohl um dieser als um anderer unerläßlicher Bestimmungen willen an die Wähler appelliren will. Die „Provinzial- Correspondenz" sagt allerdings nicht, daß der jetzige Reichstag eventuell auf¬ gelöst werden wird, was erforderlich sein würde, wenn die Appellation an die Wähler schon im nächsten Jahre stattfinden sollte. Denn d. Red. hatte Recht, meinen lapsus memoriae im vorigen Brief bemerklich zu machen: die jetzige Reichstagssession ist nicht die letzte, sondern die vorletzte ordentliche der lau¬ fenden Legislatur, Immerhin behält sich der Kanzler die Appellation an die Wähler, wenn auch vielleicht erst für das Jahr 1877 vor. Nimmt also das Zerwürfniß mit der jetzigen Neichstagsmehrheit seinen Fortgang, so würde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/481>, abgerufen am 22.07.2024.