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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Rechtseinheit -- die das deutsche Strafgesetz doch begründen sollte -- welche die
bisherige Rechtsprechung offenbart hat, übergeht die Novelle mit Stillschwei¬
gen. Allerdings waren diese Punkte nicht von Staatsanwälten zur Sprache
gebracht. Hier nur ein Beispiel, Bereits zu Anfang des Jahres 1872 wies
der Verfasser dieses darauf hin, daß die Schlußbestimmung des § 70, die
wichtige Bestimmung über den Anfangspunkt der Verjährung rechtskräftig
erkannter Strafen, in Preußen einer ganz andern Auslegung begegne als in
andern deutschen Staaten. In Preußen kannte man bis zum Erlaß des
deutschen Strafgesetzbuchs die Verjährung von Strafen überhaupt nicht. Wie
nun das deutsche Strafrecht Geltung erlangte, dedueirte das Obertrtbunal zu
Berlin, daß Gesetze keine rückwirkende Kraft haben, und demnach in Preußen
alle rechtskräftig erkannten Strafen erst von der Geltung des deutschen Straf¬
gesetzbuchs ab verjähren, also vom 1. Januar 1871 ab, gleichviel ob sie 1870
oder 1840 erkannt wurden. Andere Staaten, wie z. B. Sachsen folgten mit
Recht dem Wortlaut des § 70 und dem Grundsatz, daß Reichsgesetze den Lan-
desgeseyen vorgehen, und sprachen gesetzlich aus, daß alle vor und nach dem
1. Januar 1871 erkannte Strafen vom Tage der Rechtskraft des Erkennt¬
nisses ab verjähren, was § 70 vorschreibt. Die Controverse konnte jeden
Augenblick praktisch zu dem Resultate führen, daß Preußen Verbrecher, die
vor rechtsverwährter Zeit verurtheilt waren, zu verhaften suchte, sobald sie
das preußische Gebiet betraten, Sachsen aber ihre Auslieferung verweigerte,
weil die Strafvollstreckung nach Sächsischer Auslegung des K 70 verjährt
war. Die Petitions-Commission und mit ihr der Reichstag erkannte im Früh¬
jahr 1872 das Bedürfniß einer einheitlichen Rechtsprechung in meinem Sinne
als ein dringliches an und der Vertreter des Reichskanzleramtes Dr. Friedberg
gab die offizielle Erklärung" ab, daß die Frage längstens bei Vorlegung einer
Strafgesetznovelle werde entschieden werden. Gleichwohl ist das auch im vor¬
liegenden Entwürfe nicht geschehen.

Diese und andere der angedeuteten Verbesserungen des gegenwärtigen
Strafrechts und der Novelle dürfen wohl vom Reichstag sicher erwartet
werden. Mit den Aenderungen und Adwniuügi'n, die in Vorstehendem vor¬
geschlagen wurden, dürfte die Novelle auch den Regierungen um so annehm¬
barer erscheinen, als darin die wichtigsten politischen Paragraphen, die der
Reichskanzler verlangte. Aufnahme finden würden.


Hans Blum.


Rechtseinheit — die das deutsche Strafgesetz doch begründen sollte — welche die
bisherige Rechtsprechung offenbart hat, übergeht die Novelle mit Stillschwei¬
gen. Allerdings waren diese Punkte nicht von Staatsanwälten zur Sprache
gebracht. Hier nur ein Beispiel, Bereits zu Anfang des Jahres 1872 wies
der Verfasser dieses darauf hin, daß die Schlußbestimmung des § 70, die
wichtige Bestimmung über den Anfangspunkt der Verjährung rechtskräftig
erkannter Strafen, in Preußen einer ganz andern Auslegung begegne als in
andern deutschen Staaten. In Preußen kannte man bis zum Erlaß des
deutschen Strafgesetzbuchs die Verjährung von Strafen überhaupt nicht. Wie
nun das deutsche Strafrecht Geltung erlangte, dedueirte das Obertrtbunal zu
Berlin, daß Gesetze keine rückwirkende Kraft haben, und demnach in Preußen
alle rechtskräftig erkannten Strafen erst von der Geltung des deutschen Straf¬
gesetzbuchs ab verjähren, also vom 1. Januar 1871 ab, gleichviel ob sie 1870
oder 1840 erkannt wurden. Andere Staaten, wie z. B. Sachsen folgten mit
Recht dem Wortlaut des § 70 und dem Grundsatz, daß Reichsgesetze den Lan-
desgeseyen vorgehen, und sprachen gesetzlich aus, daß alle vor und nach dem
1. Januar 1871 erkannte Strafen vom Tage der Rechtskraft des Erkennt¬
nisses ab verjähren, was § 70 vorschreibt. Die Controverse konnte jeden
Augenblick praktisch zu dem Resultate führen, daß Preußen Verbrecher, die
vor rechtsverwährter Zeit verurtheilt waren, zu verhaften suchte, sobald sie
das preußische Gebiet betraten, Sachsen aber ihre Auslieferung verweigerte,
weil die Strafvollstreckung nach Sächsischer Auslegung des K 70 verjährt
war. Die Petitions-Commission und mit ihr der Reichstag erkannte im Früh¬
jahr 1872 das Bedürfniß einer einheitlichen Rechtsprechung in meinem Sinne
als ein dringliches an und der Vertreter des Reichskanzleramtes Dr. Friedberg
gab die offizielle Erklärung« ab, daß die Frage längstens bei Vorlegung einer
Strafgesetznovelle werde entschieden werden. Gleichwohl ist das auch im vor¬
liegenden Entwürfe nicht geschehen.

Diese und andere der angedeuteten Verbesserungen des gegenwärtigen
Strafrechts und der Novelle dürfen wohl vom Reichstag sicher erwartet
werden. Mit den Aenderungen und Adwniuügi'n, die in Vorstehendem vor¬
geschlagen wurden, dürfte die Novelle auch den Regierungen um so annehm¬
barer erscheinen, als darin die wichtigsten politischen Paragraphen, die der
Reichskanzler verlangte. Aufnahme finden würden.


Hans Blum.


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[0455] Rechtseinheit — die das deutsche Strafgesetz doch begründen sollte — welche die bisherige Rechtsprechung offenbart hat, übergeht die Novelle mit Stillschwei¬ gen. Allerdings waren diese Punkte nicht von Staatsanwälten zur Sprache gebracht. Hier nur ein Beispiel, Bereits zu Anfang des Jahres 1872 wies der Verfasser dieses darauf hin, daß die Schlußbestimmung des § 70, die wichtige Bestimmung über den Anfangspunkt der Verjährung rechtskräftig erkannter Strafen, in Preußen einer ganz andern Auslegung begegne als in andern deutschen Staaten. In Preußen kannte man bis zum Erlaß des deutschen Strafgesetzbuchs die Verjährung von Strafen überhaupt nicht. Wie nun das deutsche Strafrecht Geltung erlangte, dedueirte das Obertrtbunal zu Berlin, daß Gesetze keine rückwirkende Kraft haben, und demnach in Preußen alle rechtskräftig erkannten Strafen erst von der Geltung des deutschen Straf¬ gesetzbuchs ab verjähren, also vom 1. Januar 1871 ab, gleichviel ob sie 1870 oder 1840 erkannt wurden. Andere Staaten, wie z. B. Sachsen folgten mit Recht dem Wortlaut des § 70 und dem Grundsatz, daß Reichsgesetze den Lan- desgeseyen vorgehen, und sprachen gesetzlich aus, daß alle vor und nach dem 1. Januar 1871 erkannte Strafen vom Tage der Rechtskraft des Erkennt¬ nisses ab verjähren, was § 70 vorschreibt. Die Controverse konnte jeden Augenblick praktisch zu dem Resultate führen, daß Preußen Verbrecher, die vor rechtsverwährter Zeit verurtheilt waren, zu verhaften suchte, sobald sie das preußische Gebiet betraten, Sachsen aber ihre Auslieferung verweigerte, weil die Strafvollstreckung nach Sächsischer Auslegung des K 70 verjährt war. Die Petitions-Commission und mit ihr der Reichstag erkannte im Früh¬ jahr 1872 das Bedürfniß einer einheitlichen Rechtsprechung in meinem Sinne als ein dringliches an und der Vertreter des Reichskanzleramtes Dr. Friedberg gab die offizielle Erklärung« ab, daß die Frage längstens bei Vorlegung einer Strafgesetznovelle werde entschieden werden. Gleichwohl ist das auch im vor¬ liegenden Entwürfe nicht geschehen. Diese und andere der angedeuteten Verbesserungen des gegenwärtigen Strafrechts und der Novelle dürfen wohl vom Reichstag sicher erwartet werden. Mit den Aenderungen und Adwniuügi'n, die in Vorstehendem vor¬ geschlagen wurden, dürfte die Novelle auch den Regierungen um so annehm¬ barer erscheinen, als darin die wichtigsten politischen Paragraphen, die der Reichskanzler verlangte. Aufnahme finden würden. Hans Blum.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/455>, abgerufen am 24.08.2024.