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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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sei zu weit gegangen, allein da der Minister nun sogar die Persön¬
lichkeiten, von denen er seine Aussagen über das agitatorische Verhalten des
Bischofs zu haben behauptet, zu nennen bereit ist und letztern zur Bezeichnung
eines Schiedsrichters aufgefordert hat, so scheint er doch seiner Sache sicherer
zu sein, als manche glauben wollen. Inzwischen hat Herr v. Lutz schon
wieder Gelegenheit bekommen, auf die Besetzung eines erledigten Bischofstuhles
bedacht zu sein. Dr. Reißmann, Bischof von Würzburg, ist vor wenigen
Tagen plötzlich gestorben. Er war eines der traurigsten Thatzeugnisse des
"s-ÄLrineio act' iutelletto" ; einer der gebildetsten und mildesten bayrischen
Kirchenfürsten, als er sein Bisthum übernahm, hat er, als bei den letzten
Wahlen die berüchtigten Hirtenbriefe der bayrischen Oberhirten erschienen, den
leidenschaftlichsten und schärfsten derselben geschrieben. Wir wollen daraus
keinen Schluß auf einen andern Mann ziehen, dem auch das Zeugniß selbst¬
ständigen, vorurtheilsfreien Denkens und bisher erprobter Charakterfestigkeit
aus einem einfachen Landpfarrhaus auf den erzbischöflichen Stuhl von Bam-
berg begleitet hat -- wir meinen den noch nicht sehr lang erst dort inthro-
nifirten Herrn v. Schreiber; er hat bisher verstanden, der heillosen, die
Kirche demoralisirenden "Kaplanokratie" zu widerstehen, allein er hat doch
schon auch die neueste Eingabe der bayrischen Bischöfe an den König mit
unterschrieben und damit, unsrer Meinung nach, den ersten Schritt jener
schiefen Ebene zu gethan, auf der es erfahrungsgemäß seit dem 19. Juli 1870
rapid abwärts geht. Diese bischöfliche Gesammt- und Jmmediat-Vorstellung.
deren wir eben gedacht, sollte wohl ein Surrogat für die nicht angenommene,
nun im seligen Frieden des Landtagsarchivs ruhende Kammeradresse sein.
Neues, was man nicht schon hundertmal aus hochwürdigen Munde gehört
hätte, bot sie nicht, höchstens war der Ton naiv-zudringlicher Entschieden¬
heit, in welcher der König gebeten wurde, "nicht an den segensreichen
Schöpfungen seines Vaters und Großvaters rütteln zu lassen", neu und ganz
dem Salon- und Hoffen der Jörgischen Adresse angemessen. Der König gab
denn auch hier die rechte Antwort, d. h. gar keine, indem er das umfang¬
reiche Aktenstück ohne irgend eine Bemerkung an das Cultusministerium über¬
geben ließ. --

Wann die Kammern wieder zusammentreten werden, hängt selbstverständlich
ganz von den Reichstagsverhandlungen ab. Gehen diese aber zur Zeit in
einem etwas langsamen Tempo, so darf man sich nicht wundern, wenn das
bayrische parlamentarische Zeitmaß sich noch mehr verlangsamt. Es ist ein
Glück eigentlich, daß das Haus in der Prannersgasse zu München gegenwärtig
leer steht, denn, wären die Landboten versammelt, sie wüßten, obwohl
sie nach dem Zweck des dermaligen Landtags, für den sie berufen sind, das
Budget zu berathen hätten, gar nicht, wie sie das anfangen sollten, denn das


sei zu weit gegangen, allein da der Minister nun sogar die Persön¬
lichkeiten, von denen er seine Aussagen über das agitatorische Verhalten des
Bischofs zu haben behauptet, zu nennen bereit ist und letztern zur Bezeichnung
eines Schiedsrichters aufgefordert hat, so scheint er doch seiner Sache sicherer
zu sein, als manche glauben wollen. Inzwischen hat Herr v. Lutz schon
wieder Gelegenheit bekommen, auf die Besetzung eines erledigten Bischofstuhles
bedacht zu sein. Dr. Reißmann, Bischof von Würzburg, ist vor wenigen
Tagen plötzlich gestorben. Er war eines der traurigsten Thatzeugnisse des
„s-ÄLrineio act' iutelletto" ; einer der gebildetsten und mildesten bayrischen
Kirchenfürsten, als er sein Bisthum übernahm, hat er, als bei den letzten
Wahlen die berüchtigten Hirtenbriefe der bayrischen Oberhirten erschienen, den
leidenschaftlichsten und schärfsten derselben geschrieben. Wir wollen daraus
keinen Schluß auf einen andern Mann ziehen, dem auch das Zeugniß selbst¬
ständigen, vorurtheilsfreien Denkens und bisher erprobter Charakterfestigkeit
aus einem einfachen Landpfarrhaus auf den erzbischöflichen Stuhl von Bam-
berg begleitet hat — wir meinen den noch nicht sehr lang erst dort inthro-
nifirten Herrn v. Schreiber; er hat bisher verstanden, der heillosen, die
Kirche demoralisirenden „Kaplanokratie" zu widerstehen, allein er hat doch
schon auch die neueste Eingabe der bayrischen Bischöfe an den König mit
unterschrieben und damit, unsrer Meinung nach, den ersten Schritt jener
schiefen Ebene zu gethan, auf der es erfahrungsgemäß seit dem 19. Juli 1870
rapid abwärts geht. Diese bischöfliche Gesammt- und Jmmediat-Vorstellung.
deren wir eben gedacht, sollte wohl ein Surrogat für die nicht angenommene,
nun im seligen Frieden des Landtagsarchivs ruhende Kammeradresse sein.
Neues, was man nicht schon hundertmal aus hochwürdigen Munde gehört
hätte, bot sie nicht, höchstens war der Ton naiv-zudringlicher Entschieden¬
heit, in welcher der König gebeten wurde, „nicht an den segensreichen
Schöpfungen seines Vaters und Großvaters rütteln zu lassen", neu und ganz
dem Salon- und Hoffen der Jörgischen Adresse angemessen. Der König gab
denn auch hier die rechte Antwort, d. h. gar keine, indem er das umfang¬
reiche Aktenstück ohne irgend eine Bemerkung an das Cultusministerium über¬
geben ließ. —

Wann die Kammern wieder zusammentreten werden, hängt selbstverständlich
ganz von den Reichstagsverhandlungen ab. Gehen diese aber zur Zeit in
einem etwas langsamen Tempo, so darf man sich nicht wundern, wenn das
bayrische parlamentarische Zeitmaß sich noch mehr verlangsamt. Es ist ein
Glück eigentlich, daß das Haus in der Prannersgasse zu München gegenwärtig
leer steht, denn, wären die Landboten versammelt, sie wüßten, obwohl
sie nach dem Zweck des dermaligen Landtags, für den sie berufen sind, das
Budget zu berathen hätten, gar nicht, wie sie das anfangen sollten, denn das


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[0396] sei zu weit gegangen, allein da der Minister nun sogar die Persön¬ lichkeiten, von denen er seine Aussagen über das agitatorische Verhalten des Bischofs zu haben behauptet, zu nennen bereit ist und letztern zur Bezeichnung eines Schiedsrichters aufgefordert hat, so scheint er doch seiner Sache sicherer zu sein, als manche glauben wollen. Inzwischen hat Herr v. Lutz schon wieder Gelegenheit bekommen, auf die Besetzung eines erledigten Bischofstuhles bedacht zu sein. Dr. Reißmann, Bischof von Würzburg, ist vor wenigen Tagen plötzlich gestorben. Er war eines der traurigsten Thatzeugnisse des „s-ÄLrineio act' iutelletto" ; einer der gebildetsten und mildesten bayrischen Kirchenfürsten, als er sein Bisthum übernahm, hat er, als bei den letzten Wahlen die berüchtigten Hirtenbriefe der bayrischen Oberhirten erschienen, den leidenschaftlichsten und schärfsten derselben geschrieben. Wir wollen daraus keinen Schluß auf einen andern Mann ziehen, dem auch das Zeugniß selbst¬ ständigen, vorurtheilsfreien Denkens und bisher erprobter Charakterfestigkeit aus einem einfachen Landpfarrhaus auf den erzbischöflichen Stuhl von Bam- berg begleitet hat — wir meinen den noch nicht sehr lang erst dort inthro- nifirten Herrn v. Schreiber; er hat bisher verstanden, der heillosen, die Kirche demoralisirenden „Kaplanokratie" zu widerstehen, allein er hat doch schon auch die neueste Eingabe der bayrischen Bischöfe an den König mit unterschrieben und damit, unsrer Meinung nach, den ersten Schritt jener schiefen Ebene zu gethan, auf der es erfahrungsgemäß seit dem 19. Juli 1870 rapid abwärts geht. Diese bischöfliche Gesammt- und Jmmediat-Vorstellung. deren wir eben gedacht, sollte wohl ein Surrogat für die nicht angenommene, nun im seligen Frieden des Landtagsarchivs ruhende Kammeradresse sein. Neues, was man nicht schon hundertmal aus hochwürdigen Munde gehört hätte, bot sie nicht, höchstens war der Ton naiv-zudringlicher Entschieden¬ heit, in welcher der König gebeten wurde, „nicht an den segensreichen Schöpfungen seines Vaters und Großvaters rütteln zu lassen", neu und ganz dem Salon- und Hoffen der Jörgischen Adresse angemessen. Der König gab denn auch hier die rechte Antwort, d. h. gar keine, indem er das umfang¬ reiche Aktenstück ohne irgend eine Bemerkung an das Cultusministerium über¬ geben ließ. — Wann die Kammern wieder zusammentreten werden, hängt selbstverständlich ganz von den Reichstagsverhandlungen ab. Gehen diese aber zur Zeit in einem etwas langsamen Tempo, so darf man sich nicht wundern, wenn das bayrische parlamentarische Zeitmaß sich noch mehr verlangsamt. Es ist ein Glück eigentlich, daß das Haus in der Prannersgasse zu München gegenwärtig leer steht, denn, wären die Landboten versammelt, sie wüßten, obwohl sie nach dem Zweck des dermaligen Landtags, für den sie berufen sind, das Budget zu berathen hätten, gar nicht, wie sie das anfangen sollten, denn das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/396>, abgerufen am 22.07.2024.