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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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gangsvunkte zurückführt. Es giebt nach unsrer gegenwärtigen Kenntniß von
der Entstehung und Entwickelung der Thiere in der That nichts zur Recht¬
fertigung der Annahme, daß die Thiere stufenweise von ihrem ursprünglichen
Typus abgewichen wären und zu neuen verschiedenartigen sich umgestaltet
hätten."

Die Descendenztheorie stützt sich ferner auf den doppelten Parallelismus,
welcher die aufsteigende Stufenfolge der gegenwärtig lebenden Thiere einer¬
seits mit dem von der Geologie nachgewiesenen stufenweise erfolgten Auftreten
der verschiedenen Thierformen der Erdgeschichte, andrerseits mit der Entwicke¬
lung des höheren Thieres als Embryo verbindet, wodurch dieselben durch Zu¬
stände und Gestalten gehen. welche der bleibenden Erscheinung reifer Thiere
einer tieferstehenden Ordnung gleichen. Aber nach Agassiz spricht gerade dieser
doppelte Parallelismus gegen die Beweiskraft der Analogie. "Embryonische
Zustände der höheren Wirbelthiere der Jetztzeit erinnern uns an reife Formen
niedrer Wirbelthiere in früheren geologischen Zeiten. Auf diese Thatsache ge¬
stützt, wollen nun die Vertreter der Transmutationslehre folgern, daß in dem
langen Laufe der Zeiten eine reale Entwickelung des Einen aus dem Andern
stattgefunden habe. Aber die embryonischen Zustände der höheren Wirbel¬
thiere erinnern uns ganz ebenso lebhaft auch an reife Formen der gegenwärtig
lebenden niedern Wirbelthiere. Ja sie ähneln diesen ihren Zeitgenossen in eben
dem Grade und in eben der Weise, wie sie den fossilen Formen analog er¬
scheinen. Dürfen wir nun daraus folgern, daß. weil ein Hühnchen oder Hund
unsrer Tage aus einer gewissen Stufe der Entwickelung gleichsam einem aus¬
gewachsenen Knorpelfische ähnelt, daß. sage ich, Hühner und Hunde sich jetzt
unmittelbar aus Fischen entwickeln werden? Wir wissen recht wohl, daß
dieß nicht geschehen kann, und dennoch ist die Beweisführung genau dieselbe,
auf welche die Vertheidiger der Transmutationslehre ihre Theorie zu stützen
gewohnt sind." "Während wir ganz allgemein sagen können, daß niedere
Formen den höheren vorausgingen und daß die embryonische Entwickelung
denselben Fortschritt von der einfacheren zu der complicirteren Organisation
verfolgt, ist es dennoch in Einzelnen nicht wahr, daß alle früheren Thiere un-
vollkommener organisirt waren als die späteren. Im Gegentheil, einige der
niederen Thiere erscheinen unter höher organisirten Formen, als sie je seit¬
dem sich wieder gezeigt, und sind später verkümmert. So verhält es sich mit
den synthetischen Typen, welche Charaktere in sich vereinigten, die später auf
verschiedene Gruppen vertheilt ihren Ausdruck fanden. Jene Darstellung der
Paläontologischen Thatsachen, welche das ganze Thierreich in einer ununter-
brochnem Aufeinanderfolge, beginnend mit den unvollkommensten und endend
mit den höchstorganisirten Thieren, erscheinen läßt, ist eine Fälschung der
Natur. Es giebt keine unvermeidliche Wiederholung, keine mechanische Ent-


gangsvunkte zurückführt. Es giebt nach unsrer gegenwärtigen Kenntniß von
der Entstehung und Entwickelung der Thiere in der That nichts zur Recht¬
fertigung der Annahme, daß die Thiere stufenweise von ihrem ursprünglichen
Typus abgewichen wären und zu neuen verschiedenartigen sich umgestaltet
hätten."

Die Descendenztheorie stützt sich ferner auf den doppelten Parallelismus,
welcher die aufsteigende Stufenfolge der gegenwärtig lebenden Thiere einer¬
seits mit dem von der Geologie nachgewiesenen stufenweise erfolgten Auftreten
der verschiedenen Thierformen der Erdgeschichte, andrerseits mit der Entwicke¬
lung des höheren Thieres als Embryo verbindet, wodurch dieselben durch Zu¬
stände und Gestalten gehen. welche der bleibenden Erscheinung reifer Thiere
einer tieferstehenden Ordnung gleichen. Aber nach Agassiz spricht gerade dieser
doppelte Parallelismus gegen die Beweiskraft der Analogie. „Embryonische
Zustände der höheren Wirbelthiere der Jetztzeit erinnern uns an reife Formen
niedrer Wirbelthiere in früheren geologischen Zeiten. Auf diese Thatsache ge¬
stützt, wollen nun die Vertreter der Transmutationslehre folgern, daß in dem
langen Laufe der Zeiten eine reale Entwickelung des Einen aus dem Andern
stattgefunden habe. Aber die embryonischen Zustände der höheren Wirbel¬
thiere erinnern uns ganz ebenso lebhaft auch an reife Formen der gegenwärtig
lebenden niedern Wirbelthiere. Ja sie ähneln diesen ihren Zeitgenossen in eben
dem Grade und in eben der Weise, wie sie den fossilen Formen analog er¬
scheinen. Dürfen wir nun daraus folgern, daß. weil ein Hühnchen oder Hund
unsrer Tage aus einer gewissen Stufe der Entwickelung gleichsam einem aus¬
gewachsenen Knorpelfische ähnelt, daß. sage ich, Hühner und Hunde sich jetzt
unmittelbar aus Fischen entwickeln werden? Wir wissen recht wohl, daß
dieß nicht geschehen kann, und dennoch ist die Beweisführung genau dieselbe,
auf welche die Vertheidiger der Transmutationslehre ihre Theorie zu stützen
gewohnt sind." „Während wir ganz allgemein sagen können, daß niedere
Formen den höheren vorausgingen und daß die embryonische Entwickelung
denselben Fortschritt von der einfacheren zu der complicirteren Organisation
verfolgt, ist es dennoch in Einzelnen nicht wahr, daß alle früheren Thiere un-
vollkommener organisirt waren als die späteren. Im Gegentheil, einige der
niederen Thiere erscheinen unter höher organisirten Formen, als sie je seit¬
dem sich wieder gezeigt, und sind später verkümmert. So verhält es sich mit
den synthetischen Typen, welche Charaktere in sich vereinigten, die später auf
verschiedene Gruppen vertheilt ihren Ausdruck fanden. Jene Darstellung der
Paläontologischen Thatsachen, welche das ganze Thierreich in einer ununter-
brochnem Aufeinanderfolge, beginnend mit den unvollkommensten und endend
mit den höchstorganisirten Thieren, erscheinen läßt, ist eine Fälschung der
Natur. Es giebt keine unvermeidliche Wiederholung, keine mechanische Ent-


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[0385] gangsvunkte zurückführt. Es giebt nach unsrer gegenwärtigen Kenntniß von der Entstehung und Entwickelung der Thiere in der That nichts zur Recht¬ fertigung der Annahme, daß die Thiere stufenweise von ihrem ursprünglichen Typus abgewichen wären und zu neuen verschiedenartigen sich umgestaltet hätten." Die Descendenztheorie stützt sich ferner auf den doppelten Parallelismus, welcher die aufsteigende Stufenfolge der gegenwärtig lebenden Thiere einer¬ seits mit dem von der Geologie nachgewiesenen stufenweise erfolgten Auftreten der verschiedenen Thierformen der Erdgeschichte, andrerseits mit der Entwicke¬ lung des höheren Thieres als Embryo verbindet, wodurch dieselben durch Zu¬ stände und Gestalten gehen. welche der bleibenden Erscheinung reifer Thiere einer tieferstehenden Ordnung gleichen. Aber nach Agassiz spricht gerade dieser doppelte Parallelismus gegen die Beweiskraft der Analogie. „Embryonische Zustände der höheren Wirbelthiere der Jetztzeit erinnern uns an reife Formen niedrer Wirbelthiere in früheren geologischen Zeiten. Auf diese Thatsache ge¬ stützt, wollen nun die Vertreter der Transmutationslehre folgern, daß in dem langen Laufe der Zeiten eine reale Entwickelung des Einen aus dem Andern stattgefunden habe. Aber die embryonischen Zustände der höheren Wirbel¬ thiere erinnern uns ganz ebenso lebhaft auch an reife Formen der gegenwärtig lebenden niedern Wirbelthiere. Ja sie ähneln diesen ihren Zeitgenossen in eben dem Grade und in eben der Weise, wie sie den fossilen Formen analog er¬ scheinen. Dürfen wir nun daraus folgern, daß. weil ein Hühnchen oder Hund unsrer Tage aus einer gewissen Stufe der Entwickelung gleichsam einem aus¬ gewachsenen Knorpelfische ähnelt, daß. sage ich, Hühner und Hunde sich jetzt unmittelbar aus Fischen entwickeln werden? Wir wissen recht wohl, daß dieß nicht geschehen kann, und dennoch ist die Beweisführung genau dieselbe, auf welche die Vertheidiger der Transmutationslehre ihre Theorie zu stützen gewohnt sind." „Während wir ganz allgemein sagen können, daß niedere Formen den höheren vorausgingen und daß die embryonische Entwickelung denselben Fortschritt von der einfacheren zu der complicirteren Organisation verfolgt, ist es dennoch in Einzelnen nicht wahr, daß alle früheren Thiere un- vollkommener organisirt waren als die späteren. Im Gegentheil, einige der niederen Thiere erscheinen unter höher organisirten Formen, als sie je seit¬ dem sich wieder gezeigt, und sind später verkümmert. So verhält es sich mit den synthetischen Typen, welche Charaktere in sich vereinigten, die später auf verschiedene Gruppen vertheilt ihren Ausdruck fanden. Jene Darstellung der Paläontologischen Thatsachen, welche das ganze Thierreich in einer ununter- brochnem Aufeinanderfolge, beginnend mit den unvollkommensten und endend mit den höchstorganisirten Thieren, erscheinen läßt, ist eine Fälschung der Natur. Es giebt keine unvermeidliche Wiederholung, keine mechanische Ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/385>, abgerufen am 24.08.2024.