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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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her vollkommen dieselben Zweifel gehegt hatte. Und sie sind in der That
erklärlich genug. Ein Franzose, den ich von diesem in Deutschland herrschen¬
den Argwohn sprach, meinte, es sei eine Regung unseres "l-sser Gewissens".
Dem kann nun freilich nicht so sein, sintemalen wir Frankreich gegenüber
ein böses Gewissen durchaus nicht haben. Die Erscheinung liegt vielmehr in
dem Irrthum begründet, daß wir die chauvinistische Bärbeißigkeit der Pariser
Presse für den Ausdruck der constanten Gemüthsstimmung der französischen
Bevölkerung nehmen. Diese Stimmung beherrscht unsere Nachbarn nur,
wenn sie sozusagen ofsictell als Franzosen auftreten; im gewöhnlichen
Leben sind sie herzlich froh, sich des beengenden Apparats der "röLSl-ntiinöllts
patriotigues" entkleiden zu können.

Allerdings wird der Deutsche in Paris nicht mehr behandelt wie vor dem
Kriege, weder im guten noch im bösen Sinne. Die mit einem gewissen sou¬
veränen Mitleid gemischte Bonhommie, welche man uns damals entgegentrug,
hat selbstverständlich gründlich weichen müssen. Eine solche Haltung ist nur
möglich, wenn man seiner Ueberlegenheit vollkommen gewiß ist. Dies starke
Selbstgefühl ist aber -- wie sehr auch die Prätension der Superiorität noch
immer aufrecht erhalten werden mag -- heute arg erschüttert und damit ist
dem Franzosen in gewissem Sinne die Sicherheit des Auftretens dem Deutschen
gegenüber verloren gegangen. Es ist noch nicht der richtige Ton gefunden,
der fortan im gesellschaftlichen Verkehr mit den Siegern von 1870 anzuschlagen
wäre. Giebt man sich als Deutscher zu erkennen, ganz besonders als Preuße,
so kann man regelmäßig die Beobachtung machen, daß man eine ganze Menge
der verschiedensten Empfindungen hervorruft, unter denen jedoch das Erstaunen
zu überwiegen scheint. Offenbar kann sich der Franzose noch nicht recht vor¬
stellen, wie ein Deutscher bereits jetzt mitten in Frankreich offen mit der Er¬
wartung auftreten mag, als guter Freund behandelt zu werden und er ist im
ersten Augenblick über diese Zuversicht vielleicht recht ärgerlich. Alsbald ge¬
winnen aber die verständigeren Erwägungen die Oberhand und wenn man
uns gegenüber auch nicht den ganzen sprichwörtlichen Reichthum der fran¬
zösischen Liebenswürdigkeit entfaltet, so läßt man uns wenigstens ungeschmälert
die Wohlthat der eben so sprichwörtlichen französischen Höflichkeit genießen.

Allgemein verbreitet ist auch bei uns die Meinung, daß, wenn der Deutsche
heute in Paris auch nicht direct belästigt werde, er doch auf Schritt und
Tritt den gröbsten Schmähungen seines Vaterlandes begegnen und schon des¬
halb den Aufenthalt unerträglich finden müsse. Auch diese Ansicht entspricht
nicht der Wirklichkeit. Was von den lärmenden Ungezogenheiten der Presse
zu halten, ist bereits gesagt; indeß sind auch diese unter einem heilsamen
Drucke von oben seit einiger Zeit beträchtlich mäßiger geworden. Wenn
ferner vor Kurzem in deutschen Zeitungen über den in den neuesten frau-


her vollkommen dieselben Zweifel gehegt hatte. Und sie sind in der That
erklärlich genug. Ein Franzose, den ich von diesem in Deutschland herrschen¬
den Argwohn sprach, meinte, es sei eine Regung unseres „l-sser Gewissens".
Dem kann nun freilich nicht so sein, sintemalen wir Frankreich gegenüber
ein böses Gewissen durchaus nicht haben. Die Erscheinung liegt vielmehr in
dem Irrthum begründet, daß wir die chauvinistische Bärbeißigkeit der Pariser
Presse für den Ausdruck der constanten Gemüthsstimmung der französischen
Bevölkerung nehmen. Diese Stimmung beherrscht unsere Nachbarn nur,
wenn sie sozusagen ofsictell als Franzosen auftreten; im gewöhnlichen
Leben sind sie herzlich froh, sich des beengenden Apparats der „röLSl-ntiinöllts
patriotigues" entkleiden zu können.

Allerdings wird der Deutsche in Paris nicht mehr behandelt wie vor dem
Kriege, weder im guten noch im bösen Sinne. Die mit einem gewissen sou¬
veränen Mitleid gemischte Bonhommie, welche man uns damals entgegentrug,
hat selbstverständlich gründlich weichen müssen. Eine solche Haltung ist nur
möglich, wenn man seiner Ueberlegenheit vollkommen gewiß ist. Dies starke
Selbstgefühl ist aber — wie sehr auch die Prätension der Superiorität noch
immer aufrecht erhalten werden mag — heute arg erschüttert und damit ist
dem Franzosen in gewissem Sinne die Sicherheit des Auftretens dem Deutschen
gegenüber verloren gegangen. Es ist noch nicht der richtige Ton gefunden,
der fortan im gesellschaftlichen Verkehr mit den Siegern von 1870 anzuschlagen
wäre. Giebt man sich als Deutscher zu erkennen, ganz besonders als Preuße,
so kann man regelmäßig die Beobachtung machen, daß man eine ganze Menge
der verschiedensten Empfindungen hervorruft, unter denen jedoch das Erstaunen
zu überwiegen scheint. Offenbar kann sich der Franzose noch nicht recht vor¬
stellen, wie ein Deutscher bereits jetzt mitten in Frankreich offen mit der Er¬
wartung auftreten mag, als guter Freund behandelt zu werden und er ist im
ersten Augenblick über diese Zuversicht vielleicht recht ärgerlich. Alsbald ge¬
winnen aber die verständigeren Erwägungen die Oberhand und wenn man
uns gegenüber auch nicht den ganzen sprichwörtlichen Reichthum der fran¬
zösischen Liebenswürdigkeit entfaltet, so läßt man uns wenigstens ungeschmälert
die Wohlthat der eben so sprichwörtlichen französischen Höflichkeit genießen.

Allgemein verbreitet ist auch bei uns die Meinung, daß, wenn der Deutsche
heute in Paris auch nicht direct belästigt werde, er doch auf Schritt und
Tritt den gröbsten Schmähungen seines Vaterlandes begegnen und schon des¬
halb den Aufenthalt unerträglich finden müsse. Auch diese Ansicht entspricht
nicht der Wirklichkeit. Was von den lärmenden Ungezogenheiten der Presse
zu halten, ist bereits gesagt; indeß sind auch diese unter einem heilsamen
Drucke von oben seit einiger Zeit beträchtlich mäßiger geworden. Wenn
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[0352] her vollkommen dieselben Zweifel gehegt hatte. Und sie sind in der That erklärlich genug. Ein Franzose, den ich von diesem in Deutschland herrschen¬ den Argwohn sprach, meinte, es sei eine Regung unseres „l-sser Gewissens". Dem kann nun freilich nicht so sein, sintemalen wir Frankreich gegenüber ein böses Gewissen durchaus nicht haben. Die Erscheinung liegt vielmehr in dem Irrthum begründet, daß wir die chauvinistische Bärbeißigkeit der Pariser Presse für den Ausdruck der constanten Gemüthsstimmung der französischen Bevölkerung nehmen. Diese Stimmung beherrscht unsere Nachbarn nur, wenn sie sozusagen ofsictell als Franzosen auftreten; im gewöhnlichen Leben sind sie herzlich froh, sich des beengenden Apparats der „röLSl-ntiinöllts patriotigues" entkleiden zu können. Allerdings wird der Deutsche in Paris nicht mehr behandelt wie vor dem Kriege, weder im guten noch im bösen Sinne. Die mit einem gewissen sou¬ veränen Mitleid gemischte Bonhommie, welche man uns damals entgegentrug, hat selbstverständlich gründlich weichen müssen. Eine solche Haltung ist nur möglich, wenn man seiner Ueberlegenheit vollkommen gewiß ist. Dies starke Selbstgefühl ist aber — wie sehr auch die Prätension der Superiorität noch immer aufrecht erhalten werden mag — heute arg erschüttert und damit ist dem Franzosen in gewissem Sinne die Sicherheit des Auftretens dem Deutschen gegenüber verloren gegangen. Es ist noch nicht der richtige Ton gefunden, der fortan im gesellschaftlichen Verkehr mit den Siegern von 1870 anzuschlagen wäre. Giebt man sich als Deutscher zu erkennen, ganz besonders als Preuße, so kann man regelmäßig die Beobachtung machen, daß man eine ganze Menge der verschiedensten Empfindungen hervorruft, unter denen jedoch das Erstaunen zu überwiegen scheint. Offenbar kann sich der Franzose noch nicht recht vor¬ stellen, wie ein Deutscher bereits jetzt mitten in Frankreich offen mit der Er¬ wartung auftreten mag, als guter Freund behandelt zu werden und er ist im ersten Augenblick über diese Zuversicht vielleicht recht ärgerlich. Alsbald ge¬ winnen aber die verständigeren Erwägungen die Oberhand und wenn man uns gegenüber auch nicht den ganzen sprichwörtlichen Reichthum der fran¬ zösischen Liebenswürdigkeit entfaltet, so läßt man uns wenigstens ungeschmälert die Wohlthat der eben so sprichwörtlichen französischen Höflichkeit genießen. Allgemein verbreitet ist auch bei uns die Meinung, daß, wenn der Deutsche heute in Paris auch nicht direct belästigt werde, er doch auf Schritt und Tritt den gröbsten Schmähungen seines Vaterlandes begegnen und schon des¬ halb den Aufenthalt unerträglich finden müsse. Auch diese Ansicht entspricht nicht der Wirklichkeit. Was von den lärmenden Ungezogenheiten der Presse zu halten, ist bereits gesagt; indeß sind auch diese unter einem heilsamen Drucke von oben seit einiger Zeit beträchtlich mäßiger geworden. Wenn ferner vor Kurzem in deutschen Zeitungen über den in den neuesten frau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/352>, abgerufen am 24.08.2024.