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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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schon unzählige Schafe in den Kirchenpferch gejagt. Eines garstigen Tages
dürfte die "zahlungsfähige Moral" sich zu ihrer nicht geringen Ueberraschung
bankerott sehen, und dürfte der liberale Bildungsphilister, "der Träger der
Intelligenz und des Besitzes", sich genöthigt finden, an die vereinigten Syllabuse
des Pio Nouv und des Feist Löb zu glauben".

Daß in diesem doppelten Culturkampf nur geistige Bildung und sittliche
Zucht, nur der werkthätige Glaube an das Evangelium der Arbeit uns vor
dem Verfall retten und Deutschland weiterführen, den Sieg gewinnen können,
das weiß Scherr, darum will er, daß das Reich sich immer mehr der Volks¬
schule annehme; "die entscheidenden Schlachten in diesem Krieg werden nicht in
Ministercabinetten und Parlamentssälen, sondern in den Schulstuben geschlagen
werden". Nur die pflichttreu geführte Schule kann der furchtbar um sich
greifenden Verwilderung der Massen wirksam entgegenarbeiten. Jede Lehrstunde
in Physik oder Chemie arbeitet dem Syllabus entgegen; aber ebenso noth¬
wendig ist die sittlichreligiöse Erziehung gegen die Irrlehre des Socialismus.
"Wenn sich gegen den breitspurig einherwälzenden, alles vergemeinernden ver¬
schlammenden, versumpfenden und verpestenden Strom des Materialismus nicht
eine ideale Gegenströmung aufmacht, nicht bald und gewaltig aufmacht, so
wird das deutsche Reich nicht ausgebaut, der deutsche Rechtsstaat nicht
begründet, das dem romanisch-katholischen Autoritätsprincip entgegenzu¬
stellende germanisch-protestantische Freiheitsprineip nicht in Thätigkeit gesetzt
werden."

Die Hinwendung unsrer Zeit auf die materiellen Interessen, auf Er¬
forschung und Ausbeutung der Natur hält Scherr für kein Unglück, vielmehr
für heilsam, "weil die Expansion der Civilisation eine entsprechende Erwei¬
terung ihres materiellen Fundamentes schlechterdings voraussetzt, weil die
materielle Entwicklung den Kreis derer, welche für den Genuß der Güter des
Lebens und des höchsten derselben, der Bildung, befähigt sind, nothwendig
von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde erweitert, die
Elasticität des Menschengeistes ins Unendliche steigert, die Hilfsmittel der Ge¬
sellschaft vermehrt und so allmählich der Gesamtheit der Menschen eine mensch¬
liche Existenz zu schaffen verspricht, welche eben als solche die Neubethätigung
idealer Stimmungen und Kräfte in sich begreift". Die Ausschreitungen des theore¬
tischen Materialismus, meint er am Schluß der Culturgeschichte, werde die
sittliche Kraft unsrer Nation unschwer zu bändigen wissen; aber die Blätter
im Winde finden die Sache doch bedenklicher. "Kein unbefangner und ge¬
recht Urtheilender wird verneinen, daß die Folgen der von Kathedern und
Dächern und Entsteinen gepredigten materialistischen Weltanschauung in trau¬
rigster Weise sich spürbar machen. Wie ein hungriger Wolf geht der Genu߬
teufel um, und die Zahl seiner Anhänger heißt auch in Deutschland Legion.


schon unzählige Schafe in den Kirchenpferch gejagt. Eines garstigen Tages
dürfte die „zahlungsfähige Moral" sich zu ihrer nicht geringen Ueberraschung
bankerott sehen, und dürfte der liberale Bildungsphilister, „der Träger der
Intelligenz und des Besitzes", sich genöthigt finden, an die vereinigten Syllabuse
des Pio Nouv und des Feist Löb zu glauben".

Daß in diesem doppelten Culturkampf nur geistige Bildung und sittliche
Zucht, nur der werkthätige Glaube an das Evangelium der Arbeit uns vor
dem Verfall retten und Deutschland weiterführen, den Sieg gewinnen können,
das weiß Scherr, darum will er, daß das Reich sich immer mehr der Volks¬
schule annehme; „die entscheidenden Schlachten in diesem Krieg werden nicht in
Ministercabinetten und Parlamentssälen, sondern in den Schulstuben geschlagen
werden". Nur die pflichttreu geführte Schule kann der furchtbar um sich
greifenden Verwilderung der Massen wirksam entgegenarbeiten. Jede Lehrstunde
in Physik oder Chemie arbeitet dem Syllabus entgegen; aber ebenso noth¬
wendig ist die sittlichreligiöse Erziehung gegen die Irrlehre des Socialismus.
„Wenn sich gegen den breitspurig einherwälzenden, alles vergemeinernden ver¬
schlammenden, versumpfenden und verpestenden Strom des Materialismus nicht
eine ideale Gegenströmung aufmacht, nicht bald und gewaltig aufmacht, so
wird das deutsche Reich nicht ausgebaut, der deutsche Rechtsstaat nicht
begründet, das dem romanisch-katholischen Autoritätsprincip entgegenzu¬
stellende germanisch-protestantische Freiheitsprineip nicht in Thätigkeit gesetzt
werden."

Die Hinwendung unsrer Zeit auf die materiellen Interessen, auf Er¬
forschung und Ausbeutung der Natur hält Scherr für kein Unglück, vielmehr
für heilsam, „weil die Expansion der Civilisation eine entsprechende Erwei¬
terung ihres materiellen Fundamentes schlechterdings voraussetzt, weil die
materielle Entwicklung den Kreis derer, welche für den Genuß der Güter des
Lebens und des höchsten derselben, der Bildung, befähigt sind, nothwendig
von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde erweitert, die
Elasticität des Menschengeistes ins Unendliche steigert, die Hilfsmittel der Ge¬
sellschaft vermehrt und so allmählich der Gesamtheit der Menschen eine mensch¬
liche Existenz zu schaffen verspricht, welche eben als solche die Neubethätigung
idealer Stimmungen und Kräfte in sich begreift". Die Ausschreitungen des theore¬
tischen Materialismus, meint er am Schluß der Culturgeschichte, werde die
sittliche Kraft unsrer Nation unschwer zu bändigen wissen; aber die Blätter
im Winde finden die Sache doch bedenklicher. „Kein unbefangner und ge¬
recht Urtheilender wird verneinen, daß die Folgen der von Kathedern und
Dächern und Entsteinen gepredigten materialistischen Weltanschauung in trau¬
rigster Weise sich spürbar machen. Wie ein hungriger Wolf geht der Genu߬
teufel um, und die Zahl seiner Anhänger heißt auch in Deutschland Legion.


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[0329] schon unzählige Schafe in den Kirchenpferch gejagt. Eines garstigen Tages dürfte die „zahlungsfähige Moral" sich zu ihrer nicht geringen Ueberraschung bankerott sehen, und dürfte der liberale Bildungsphilister, „der Träger der Intelligenz und des Besitzes", sich genöthigt finden, an die vereinigten Syllabuse des Pio Nouv und des Feist Löb zu glauben". Daß in diesem doppelten Culturkampf nur geistige Bildung und sittliche Zucht, nur der werkthätige Glaube an das Evangelium der Arbeit uns vor dem Verfall retten und Deutschland weiterführen, den Sieg gewinnen können, das weiß Scherr, darum will er, daß das Reich sich immer mehr der Volks¬ schule annehme; „die entscheidenden Schlachten in diesem Krieg werden nicht in Ministercabinetten und Parlamentssälen, sondern in den Schulstuben geschlagen werden". Nur die pflichttreu geführte Schule kann der furchtbar um sich greifenden Verwilderung der Massen wirksam entgegenarbeiten. Jede Lehrstunde in Physik oder Chemie arbeitet dem Syllabus entgegen; aber ebenso noth¬ wendig ist die sittlichreligiöse Erziehung gegen die Irrlehre des Socialismus. „Wenn sich gegen den breitspurig einherwälzenden, alles vergemeinernden ver¬ schlammenden, versumpfenden und verpestenden Strom des Materialismus nicht eine ideale Gegenströmung aufmacht, nicht bald und gewaltig aufmacht, so wird das deutsche Reich nicht ausgebaut, der deutsche Rechtsstaat nicht begründet, das dem romanisch-katholischen Autoritätsprincip entgegenzu¬ stellende germanisch-protestantische Freiheitsprineip nicht in Thätigkeit gesetzt werden." Die Hinwendung unsrer Zeit auf die materiellen Interessen, auf Er¬ forschung und Ausbeutung der Natur hält Scherr für kein Unglück, vielmehr für heilsam, „weil die Expansion der Civilisation eine entsprechende Erwei¬ terung ihres materiellen Fundamentes schlechterdings voraussetzt, weil die materielle Entwicklung den Kreis derer, welche für den Genuß der Güter des Lebens und des höchsten derselben, der Bildung, befähigt sind, nothwendig von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde erweitert, die Elasticität des Menschengeistes ins Unendliche steigert, die Hilfsmittel der Ge¬ sellschaft vermehrt und so allmählich der Gesamtheit der Menschen eine mensch¬ liche Existenz zu schaffen verspricht, welche eben als solche die Neubethätigung idealer Stimmungen und Kräfte in sich begreift". Die Ausschreitungen des theore¬ tischen Materialismus, meint er am Schluß der Culturgeschichte, werde die sittliche Kraft unsrer Nation unschwer zu bändigen wissen; aber die Blätter im Winde finden die Sache doch bedenklicher. „Kein unbefangner und ge¬ recht Urtheilender wird verneinen, daß die Folgen der von Kathedern und Dächern und Entsteinen gepredigten materialistischen Weltanschauung in trau¬ rigster Weise sich spürbar machen. Wie ein hungriger Wolf geht der Genu߬ teufel um, und die Zahl seiner Anhänger heißt auch in Deutschland Legion.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/329>, abgerufen am 22.07.2024.