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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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dann zur Ausführung zu schreiten ; das geht etwas langsamer, aber es ist
das Vernünftigere, und gegenwärtig ist für die überwiegende Mehrheit in
Deutschland der Bundesstaat die Losung, und zwar mit dem Augustinischen
Motto : In Not:ö8sg.i-us nullus, in Äudiis libörws, in oiniübus earitas! Freilich
gehört guter Wille dazu, und erschwert uns der Ultramontanismus und
eine reichsseindliche rothe Internationale die Sache.

Da weist denn auch Scherr aus den großen Unterschied des französischen
und deutschen Klerus hin. Die katholischen Geistlichen in Frankreich sind vor
allem Franzosen, der Ultramontanismus soll ihnen z. B. nur bei der Revanche
helfen, dann denken sie Rom doch unter Paris unterzuordnen; Deutsche aber
wollen mit Hilfe Roms, ja Frankreichs, das eigne Reich brechen, wenn wir
nicht nach Canossa gehen; sie verleugnen alles Beste und Schönste, was
der deutsche Genius geschaffen.

"Wenn uns etwas stolz machen darf, so ist es der gegen uns gerichtete
Haß der Unwissenheit, der Scheinheiligkeit, der Pfafferei und der gedankenlosen
Phrasendrescherei." Zur letztern zählt Scherr die Stimmen der liberalen Presse
gegen die russische Allianz; daß die französischen Republikaner eine solche
suchen das ist schon recht, aber Deutschland soll mit "dem verabscheuenswerthen
Kirchenstaat" keine Freundschaft haben. Indeß Alexander II., der Bauern¬
befreier, sieht das Ansehn Rußlands steigen, weil er das Culturwerk Peter's
des Großen mit Ernst und Aufrichtigkeit fortsetzt, und da zum Fortgang
dieses Werks Rußland des Friedens in Europa bedarf, so wird dieser durch
die deutsch-russische Allianz gesichert.

"Vorwärts! dies kurze deutsche Wort, welches wie ein Trompetenstoß
klingt, ist der sprachliche Ausdruck des weltgeschichtlichen Entwicklungsgesetzes.
Vorwärts! Langsam, aber rastlos, rüstig und regelrecht rollt das Rad der
Zeit, unbekümmert (??) um die beiden Hände, welche, eine schwarze und eine
rothe, von verschiednen Seiten her täppisch in seine Speichen zu greifen sich
bemühen. Die schwarze Hand möchte das Rad in weit hinter uns liegende
barbarische Finsternisse zurückwenden, aus welchen der Fels Petri gespenstig
lächerlich und der Scheiterhaufen des heiligen Arbues drohend aufragen. Die
rothe Hand will das Rad holterpolter den Berg hinunterjagen, und drunten
mitten in den pestilenzialischen Sumpf der Phalanstereherrlichkeitslüge, der
freien Liebe und anderweitiger Bestialität hinein. Der schwarze Jesuitismus spe-
culirt auf die Dummheit und Unwissenheit, der rothe auf die Selbstsucht und Ge¬
nußgier. Und beiden leistet eine gedankenlose, vermaterialisirte, im Dünkel stupid
gewordene PseudoWissenschaft eifrige Handlangerdienste. Das von einem gelehrten
Stubenhocker, welcher sein lebelang jede Berührung mit dem Volk ängstlich ver¬
mieden hat, erhobene Geplapper: ästhetische Anschauungen könnten und müßten
den Menschen, den Massen die religiösen Vorstellungen ersetzen, hat den Pfaffen


dann zur Ausführung zu schreiten ; das geht etwas langsamer, aber es ist
das Vernünftigere, und gegenwärtig ist für die überwiegende Mehrheit in
Deutschland der Bundesstaat die Losung, und zwar mit dem Augustinischen
Motto : In Not:ö8sg.i-us nullus, in Äudiis libörws, in oiniübus earitas! Freilich
gehört guter Wille dazu, und erschwert uns der Ultramontanismus und
eine reichsseindliche rothe Internationale die Sache.

Da weist denn auch Scherr aus den großen Unterschied des französischen
und deutschen Klerus hin. Die katholischen Geistlichen in Frankreich sind vor
allem Franzosen, der Ultramontanismus soll ihnen z. B. nur bei der Revanche
helfen, dann denken sie Rom doch unter Paris unterzuordnen; Deutsche aber
wollen mit Hilfe Roms, ja Frankreichs, das eigne Reich brechen, wenn wir
nicht nach Canossa gehen; sie verleugnen alles Beste und Schönste, was
der deutsche Genius geschaffen.

„Wenn uns etwas stolz machen darf, so ist es der gegen uns gerichtete
Haß der Unwissenheit, der Scheinheiligkeit, der Pfafferei und der gedankenlosen
Phrasendrescherei." Zur letztern zählt Scherr die Stimmen der liberalen Presse
gegen die russische Allianz; daß die französischen Republikaner eine solche
suchen das ist schon recht, aber Deutschland soll mit „dem verabscheuenswerthen
Kirchenstaat" keine Freundschaft haben. Indeß Alexander II., der Bauern¬
befreier, sieht das Ansehn Rußlands steigen, weil er das Culturwerk Peter's
des Großen mit Ernst und Aufrichtigkeit fortsetzt, und da zum Fortgang
dieses Werks Rußland des Friedens in Europa bedarf, so wird dieser durch
die deutsch-russische Allianz gesichert.

„Vorwärts! dies kurze deutsche Wort, welches wie ein Trompetenstoß
klingt, ist der sprachliche Ausdruck des weltgeschichtlichen Entwicklungsgesetzes.
Vorwärts! Langsam, aber rastlos, rüstig und regelrecht rollt das Rad der
Zeit, unbekümmert (??) um die beiden Hände, welche, eine schwarze und eine
rothe, von verschiednen Seiten her täppisch in seine Speichen zu greifen sich
bemühen. Die schwarze Hand möchte das Rad in weit hinter uns liegende
barbarische Finsternisse zurückwenden, aus welchen der Fels Petri gespenstig
lächerlich und der Scheiterhaufen des heiligen Arbues drohend aufragen. Die
rothe Hand will das Rad holterpolter den Berg hinunterjagen, und drunten
mitten in den pestilenzialischen Sumpf der Phalanstereherrlichkeitslüge, der
freien Liebe und anderweitiger Bestialität hinein. Der schwarze Jesuitismus spe-
culirt auf die Dummheit und Unwissenheit, der rothe auf die Selbstsucht und Ge¬
nußgier. Und beiden leistet eine gedankenlose, vermaterialisirte, im Dünkel stupid
gewordene PseudoWissenschaft eifrige Handlangerdienste. Das von einem gelehrten
Stubenhocker, welcher sein lebelang jede Berührung mit dem Volk ängstlich ver¬
mieden hat, erhobene Geplapper: ästhetische Anschauungen könnten und müßten
den Menschen, den Massen die religiösen Vorstellungen ersetzen, hat den Pfaffen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/328>, abgerufen am 22.07.2024.