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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Hangern. Als aber das Verhör beginnen sollte, schrie Nathan, er sehe eine
Feuersäule zwischen ihrem Messias und dem Richter stehen, die jenen vor
diesem beschützen werde. Die übrige jüdische Begleitung erklärte, die Säule
ebenfalls zu sehen. Das verblüffte den Kadi, und er entließ die lärmende
Gesellschaft mit dem Versprechen, den Messias und seine Anhänger fortan in
Frieden zu lassen.

Und immer weiter verbreitete sich die Kunde von der Gnade, die der
Herr seinem Volke widerfahren lassen, und überall schlug das Entzücken
darüber bei Einzelnen in Verzückung um. An verschiedenen Orten traten Pro¬
pheten auf, welche den Anbruch des Messiasreiches verkündeten. Allenthalben
fingen Gerüchte um von wunderbaren Begebenheiten. In Arabien sollten
sich Schaaren von Juden, den verlorenen zehn Stämmen angehörig, gerüstet
Wu Abzug nach Jerusalem gesammelt haben. Aus Persien trafen Nachrichten
en>, daß sich dort achttausend Haufen des auserwählten Volkes auf die Wall¬
fahrt nach Palästina begeben, um sich dem neuen König desselben zur Ver°
sügung zu stellen. In Nordafrika waren, so erzählte man sich, an die
hunderttausend jüdische Männer aus Marokko und Algier auf dem Wege
^ ihm.

Selbst im Norden der alten Welt regte die Kunde von den großen
Dingen, die sich vorbereiteten, die Gemüther in ungewöhnlicher Weise auf.
Namentlich war dies in der Amsterdamer Gemeinde der Fall, die aus spa¬
nischen Juden bestand, und der die Chachamim von Jerusalem die Ankunft
des Messias gemeldet hatten. Man beleuchtete die Häuser und Synagogen
'n festlicher Weise, man enthielt sich der Arbeit, excentrische Gemüther fingen
an, Gesichte zu sehen, und zu prophezeien. Häusig fielen die von dieser reli-
giösen Manier Ergriffnen in epileptischen Krämpfen auf offner Straße nieder,
Eckten und zappelten, die Augen verdrehend und Schaum vor dem Munde,
und erzählten^ wenn sie erwacht, von allerlei seltsamen Dingen, die sie ge¬
schaut. Es war genau so, dürfen wir annehmen, wie bei den französischen
Camisarden in den Cevennenkriegen, wie bei Convulsionärs auf dem Kirchhofe
heiligen Medardus zu Paris, bei den Revivals der Methodisten und den
ersten Anfängen des Mormonenthums.

Alles, was der Talmud, die Kabbala und die alten Propheten in Be.
dress des Messiasreichs enthielten, kam in den Aussprüchen jener Propheten zu
Tage, auch die im apokryphischen vierten Buch Esra niedergelegte Meinung,
daß dem Siege des Messias eine Zeit großer Trübsal vorhergehen werde, mit
der Andere die Ansicht verbanden, daß dieser selbst vor seinem Triumphe für
^ Sünden des Volkes leiden müsse. So verkündeten einige der Propheten:
nach neun Monaten werde der Messias wieder entrückt werden, und dann
^erde schwere Heimsuchung über die Judenheit verhängt werden. Darauf


Hangern. Als aber das Verhör beginnen sollte, schrie Nathan, er sehe eine
Feuersäule zwischen ihrem Messias und dem Richter stehen, die jenen vor
diesem beschützen werde. Die übrige jüdische Begleitung erklärte, die Säule
ebenfalls zu sehen. Das verblüffte den Kadi, und er entließ die lärmende
Gesellschaft mit dem Versprechen, den Messias und seine Anhänger fortan in
Frieden zu lassen.

Und immer weiter verbreitete sich die Kunde von der Gnade, die der
Herr seinem Volke widerfahren lassen, und überall schlug das Entzücken
darüber bei Einzelnen in Verzückung um. An verschiedenen Orten traten Pro¬
pheten auf, welche den Anbruch des Messiasreiches verkündeten. Allenthalben
fingen Gerüchte um von wunderbaren Begebenheiten. In Arabien sollten
sich Schaaren von Juden, den verlorenen zehn Stämmen angehörig, gerüstet
Wu Abzug nach Jerusalem gesammelt haben. Aus Persien trafen Nachrichten
en>, daß sich dort achttausend Haufen des auserwählten Volkes auf die Wall¬
fahrt nach Palästina begeben, um sich dem neuen König desselben zur Ver°
sügung zu stellen. In Nordafrika waren, so erzählte man sich, an die
hunderttausend jüdische Männer aus Marokko und Algier auf dem Wege
^ ihm.

Selbst im Norden der alten Welt regte die Kunde von den großen
Dingen, die sich vorbereiteten, die Gemüther in ungewöhnlicher Weise auf.
Namentlich war dies in der Amsterdamer Gemeinde der Fall, die aus spa¬
nischen Juden bestand, und der die Chachamim von Jerusalem die Ankunft
des Messias gemeldet hatten. Man beleuchtete die Häuser und Synagogen
'n festlicher Weise, man enthielt sich der Arbeit, excentrische Gemüther fingen
an, Gesichte zu sehen, und zu prophezeien. Häusig fielen die von dieser reli-
giösen Manier Ergriffnen in epileptischen Krämpfen auf offner Straße nieder,
Eckten und zappelten, die Augen verdrehend und Schaum vor dem Munde,
und erzählten^ wenn sie erwacht, von allerlei seltsamen Dingen, die sie ge¬
schaut. Es war genau so, dürfen wir annehmen, wie bei den französischen
Camisarden in den Cevennenkriegen, wie bei Convulsionärs auf dem Kirchhofe
heiligen Medardus zu Paris, bei den Revivals der Methodisten und den
ersten Anfängen des Mormonenthums.

Alles, was der Talmud, die Kabbala und die alten Propheten in Be.
dress des Messiasreichs enthielten, kam in den Aussprüchen jener Propheten zu
Tage, auch die im apokryphischen vierten Buch Esra niedergelegte Meinung,
daß dem Siege des Messias eine Zeit großer Trübsal vorhergehen werde, mit
der Andere die Ansicht verbanden, daß dieser selbst vor seinem Triumphe für
^ Sünden des Volkes leiden müsse. So verkündeten einige der Propheten:
nach neun Monaten werde der Messias wieder entrückt werden, und dann
^erde schwere Heimsuchung über die Judenheit verhängt werden. Darauf


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[0295] Hangern. Als aber das Verhör beginnen sollte, schrie Nathan, er sehe eine Feuersäule zwischen ihrem Messias und dem Richter stehen, die jenen vor diesem beschützen werde. Die übrige jüdische Begleitung erklärte, die Säule ebenfalls zu sehen. Das verblüffte den Kadi, und er entließ die lärmende Gesellschaft mit dem Versprechen, den Messias und seine Anhänger fortan in Frieden zu lassen. Und immer weiter verbreitete sich die Kunde von der Gnade, die der Herr seinem Volke widerfahren lassen, und überall schlug das Entzücken darüber bei Einzelnen in Verzückung um. An verschiedenen Orten traten Pro¬ pheten auf, welche den Anbruch des Messiasreiches verkündeten. Allenthalben fingen Gerüchte um von wunderbaren Begebenheiten. In Arabien sollten sich Schaaren von Juden, den verlorenen zehn Stämmen angehörig, gerüstet Wu Abzug nach Jerusalem gesammelt haben. Aus Persien trafen Nachrichten en>, daß sich dort achttausend Haufen des auserwählten Volkes auf die Wall¬ fahrt nach Palästina begeben, um sich dem neuen König desselben zur Ver° sügung zu stellen. In Nordafrika waren, so erzählte man sich, an die hunderttausend jüdische Männer aus Marokko und Algier auf dem Wege ^ ihm. Selbst im Norden der alten Welt regte die Kunde von den großen Dingen, die sich vorbereiteten, die Gemüther in ungewöhnlicher Weise auf. Namentlich war dies in der Amsterdamer Gemeinde der Fall, die aus spa¬ nischen Juden bestand, und der die Chachamim von Jerusalem die Ankunft des Messias gemeldet hatten. Man beleuchtete die Häuser und Synagogen 'n festlicher Weise, man enthielt sich der Arbeit, excentrische Gemüther fingen an, Gesichte zu sehen, und zu prophezeien. Häusig fielen die von dieser reli- giösen Manier Ergriffnen in epileptischen Krämpfen auf offner Straße nieder, Eckten und zappelten, die Augen verdrehend und Schaum vor dem Munde, und erzählten^ wenn sie erwacht, von allerlei seltsamen Dingen, die sie ge¬ schaut. Es war genau so, dürfen wir annehmen, wie bei den französischen Camisarden in den Cevennenkriegen, wie bei Convulsionärs auf dem Kirchhofe heiligen Medardus zu Paris, bei den Revivals der Methodisten und den ersten Anfängen des Mormonenthums. Alles, was der Talmud, die Kabbala und die alten Propheten in Be. dress des Messiasreichs enthielten, kam in den Aussprüchen jener Propheten zu Tage, auch die im apokryphischen vierten Buch Esra niedergelegte Meinung, daß dem Siege des Messias eine Zeit großer Trübsal vorhergehen werde, mit der Andere die Ansicht verbanden, daß dieser selbst vor seinem Triumphe für ^ Sünden des Volkes leiden müsse. So verkündeten einige der Propheten: nach neun Monaten werde der Messias wieder entrückt werden, und dann ^erde schwere Heimsuchung über die Judenheit verhängt werden. Darauf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/295>, abgerufen am 25.08.2024.