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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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daß Frankreich während dieses Sommers zur Einsicht gekommen, seine Ne-
vanchegedanken unter allen Umständen auf Jahre vertagen zu müssen. Das
einigermaßen uneigentlich sogenannte Bündniß der drei Kaiser -- denn amt¬
lich wird ja fortwährend versichert, daß keine Verträge, sondern nur ein freies
EinVerständniß den Bund zusammenhalte -- hat diese Einsicht wohl nicht
allein bewirkt. Die Gespräche französischer Staatsmänner mit dem Fürsten
Gortschakoff, unscheinbar während der Sommererholungsreisen in Scene ge¬
setzt , dürften ihren Antheil beanspruchen. Man würde aber schwerlich richtig
gehen, wenn man meinen wollte, der russische Kanzler habe im Interesse
Anderer, als in dem seines Reiches gesprochen.

Ein zweites außerordentlich wichtiges Moment der diplomatischen Geschichte
des Sommers war der slavische Aufstand auf der Balkanhalbinsel und seine
anfängliche Resultatlosigkeit. Es schien ganz, als wäre die alte heilige Alli¬
anz mit ihrer Auferhaltung des status amo, auch des schlechtesten, ausgelebt.
Die Türkei schiffte ihre Truppen auf östreichischen Boden aus, Oestreich ver¬
bot Serbien und Montenegro sich zu rühren bei Strafe seines militärischen
Einschreitens, und das nannte man Nichtintervention. Schon rühmte sich
die Türkei der gelungenen Unterdrückung des Aufstandes und benutzte die
Kosten des Gelingens zur Entschuldigung ihres Staatsbankerotts. Am 27.
Oktober sprach die deutsche Thronrede von der Sicherheit des tiefen Friedens,
am 30. Oktober treffen in Berlin die Telegramme von der Kundgebung des
russischen Regierungsanzeigers ein. Seitdem zeigt sich Europa, namentlich
London und Paris über den Frieden beunruhigt. Wir halten diese Besorg-
niß für affectirt. Ermüdet ist alle Welt, Niemand wünscht Krieg. Aber
Rußland hat die Energie und die Umsicht zu erkennen, daß der Müde vom
Sopha aufstehen muß, um den Schatz aufzuheben, wenn die Nebenbuhler
noch müder sind. Sie rufen freilich alle: störe uns doch nicht die Ruhe! Aber
aufstehen werden sie nicht, und Rußland begreift, daß es besser ist, mit An¬
strengung einige Schritte zu gehen, als bei erlangten Kräften mit einem
Heer ebenfalls gekräftigter Nebenbuhler einen harten Strauß auszufechten.
Uebrigens ist vorläufig nicht etwa die Rede von Annexionen. Es ist nur die
Rede von einer Regelung der Verhältnisse der slavischen Bevölkerungen der
Balkanhalbinsel, die noch unmittelbar unter dem türkischen Joche leben.
Wenn freilich die Pforte bei dieser Regelung Umstände verursachen und gar
ein kräftiges Zupfen am Arme unvermeidlich machen sollte, so könnte sich mit
ihr Manches ändern. Der europäische Friede aber wird auch durch diese
Aenderungen nicht bedroht werden. Nur diejenigen erblicken den Frieden ge¬
fährdet, denen der Gedanke fürchterlich ist. die orientalische Frage einen oder
mehrere bedeutende Schritte weiter geführt zu sehen, ohne daß sie eingreifen
und ihr Eingreifen um hohen Preis verkaufen können. Soviel zunächst von


daß Frankreich während dieses Sommers zur Einsicht gekommen, seine Ne-
vanchegedanken unter allen Umständen auf Jahre vertagen zu müssen. Das
einigermaßen uneigentlich sogenannte Bündniß der drei Kaiser — denn amt¬
lich wird ja fortwährend versichert, daß keine Verträge, sondern nur ein freies
EinVerständniß den Bund zusammenhalte — hat diese Einsicht wohl nicht
allein bewirkt. Die Gespräche französischer Staatsmänner mit dem Fürsten
Gortschakoff, unscheinbar während der Sommererholungsreisen in Scene ge¬
setzt , dürften ihren Antheil beanspruchen. Man würde aber schwerlich richtig
gehen, wenn man meinen wollte, der russische Kanzler habe im Interesse
Anderer, als in dem seines Reiches gesprochen.

Ein zweites außerordentlich wichtiges Moment der diplomatischen Geschichte
des Sommers war der slavische Aufstand auf der Balkanhalbinsel und seine
anfängliche Resultatlosigkeit. Es schien ganz, als wäre die alte heilige Alli¬
anz mit ihrer Auferhaltung des status amo, auch des schlechtesten, ausgelebt.
Die Türkei schiffte ihre Truppen auf östreichischen Boden aus, Oestreich ver¬
bot Serbien und Montenegro sich zu rühren bei Strafe seines militärischen
Einschreitens, und das nannte man Nichtintervention. Schon rühmte sich
die Türkei der gelungenen Unterdrückung des Aufstandes und benutzte die
Kosten des Gelingens zur Entschuldigung ihres Staatsbankerotts. Am 27.
Oktober sprach die deutsche Thronrede von der Sicherheit des tiefen Friedens,
am 30. Oktober treffen in Berlin die Telegramme von der Kundgebung des
russischen Regierungsanzeigers ein. Seitdem zeigt sich Europa, namentlich
London und Paris über den Frieden beunruhigt. Wir halten diese Besorg-
niß für affectirt. Ermüdet ist alle Welt, Niemand wünscht Krieg. Aber
Rußland hat die Energie und die Umsicht zu erkennen, daß der Müde vom
Sopha aufstehen muß, um den Schatz aufzuheben, wenn die Nebenbuhler
noch müder sind. Sie rufen freilich alle: störe uns doch nicht die Ruhe! Aber
aufstehen werden sie nicht, und Rußland begreift, daß es besser ist, mit An¬
strengung einige Schritte zu gehen, als bei erlangten Kräften mit einem
Heer ebenfalls gekräftigter Nebenbuhler einen harten Strauß auszufechten.
Uebrigens ist vorläufig nicht etwa die Rede von Annexionen. Es ist nur die
Rede von einer Regelung der Verhältnisse der slavischen Bevölkerungen der
Balkanhalbinsel, die noch unmittelbar unter dem türkischen Joche leben.
Wenn freilich die Pforte bei dieser Regelung Umstände verursachen und gar
ein kräftiges Zupfen am Arme unvermeidlich machen sollte, so könnte sich mit
ihr Manches ändern. Der europäische Friede aber wird auch durch diese
Aenderungen nicht bedroht werden. Nur diejenigen erblicken den Frieden ge¬
fährdet, denen der Gedanke fürchterlich ist. die orientalische Frage einen oder
mehrere bedeutende Schritte weiter geführt zu sehen, ohne daß sie eingreifen
und ihr Eingreifen um hohen Preis verkaufen können. Soviel zunächst von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/272>, abgerufen am 22.07.2024.