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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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gehörig erkannte und das auch durch Naturanlage und tägliches Rascheln trotz
alles scheinbar Entgegenstrebenden stets mehr zu einem ahnenden Verstehen
für sein eigenes Wollen und Wesen zu gedeihen schien, in dieser Hinsicht
bald am weitesten von ihm sich entfernen zu sehen. Und dies ist der Inhalt
der nächsten Ereignisse seines Lebens! Dies aber auch der Keim und Sub¬
stanz von Beethoven's weitaus erhabensten Schaffen. Ja die ferneren Erleb¬
nisse mit dem geliebten Neffen erscheinen als die eigentliche Probe von seinem
eigenen menschlichen Wesen, vor allem von der Stichhaltigkeit des Zustandes,
dem wir also zuerst in diesem Op. 127 begegneten. Ihnen verdanken wir
die eigenste Enthüllung seiner Seele, sowie sie auch selbst diesen Bestand
seines Wesens in seiner Tiefe aufrühren. Sie führen allerdings zu der Kata¬
strophe, der kein Schaffen weiter folgte, sie bereiten ihm aber auch zu guter
Letzt jene volle Concentrirung des Innern, aus der der geheimste Sang seines
Lebens erfolgt, zum Ergüsse des tiefsten Menschenseins, aus dem trotz aller
Herrlichkeit der Wortdichtung neuer wie alter Zeit unsere heutige Kunst die
Fähigkeit nahm, ihre Gebilde aus dem "intimsten Centrum der Welt" selbst
zu gestalten und dessen geheimes Leben selbst sozusagen greifbar vor uns aus¬
zubreiten. Wir nennen nur Wagner's "Tristan und Isolde".

Und wenn wir diesen äußerlich so nichtssagenden Dingen, die von den
großen Vorwürfen des Lebens wie der Kunst gleich weit abzuliegen scheinen,
dennoch eine solche Bedeutung beilegen, so gedenken wir als einer sichern
Wehr gegen jeden Einwand der kleinlich schwächlichen Sentimentalität des
modernen Empfindens auch hier wieder jener Dichtung, die mit ihrer Absicht
am reinsten am Busen des Denkens und Empfindens unserer Zeit gelegen, und
citiren das Bild jenes Gretchens, die ebenfalls "von ihrem Glauben voll sich
heilig quält, daß sie den liebsten Mann verloren halten soll". Mag es ein
Wahn sein, was sie beseelt, mag hier unbedacht erscheinen, was geltend ist:


"Alles ist nach seiner Art;
an ihr wirst Du nichts ändern,"

und zuletzt in vollem Ernst "Jeder nach seiner Facon selig werden", --es ist
doch das reinste und geradezu heiligste Gefühl, welches das Menschenherz per¬
sönlich bewegen kann. Und daß dasselbe in diesen letzten Lebensjahren auch
unsern Meister mit seiner vollen Macht erfüllt, dem verdanken wir was über¬
haupt davon innerhalb seiner Kunst wach und laut geworden und was demselben
an höherem Schauen und Bilden Herrliches folgte, zunächst jenes Op. 132
und dann die weiteren Op. 130, 131, 13S, die reichste Quelle der Seelendich¬
tung , die sich je erschloß.




gehörig erkannte und das auch durch Naturanlage und tägliches Rascheln trotz
alles scheinbar Entgegenstrebenden stets mehr zu einem ahnenden Verstehen
für sein eigenes Wollen und Wesen zu gedeihen schien, in dieser Hinsicht
bald am weitesten von ihm sich entfernen zu sehen. Und dies ist der Inhalt
der nächsten Ereignisse seines Lebens! Dies aber auch der Keim und Sub¬
stanz von Beethoven's weitaus erhabensten Schaffen. Ja die ferneren Erleb¬
nisse mit dem geliebten Neffen erscheinen als die eigentliche Probe von seinem
eigenen menschlichen Wesen, vor allem von der Stichhaltigkeit des Zustandes,
dem wir also zuerst in diesem Op. 127 begegneten. Ihnen verdanken wir
die eigenste Enthüllung seiner Seele, sowie sie auch selbst diesen Bestand
seines Wesens in seiner Tiefe aufrühren. Sie führen allerdings zu der Kata¬
strophe, der kein Schaffen weiter folgte, sie bereiten ihm aber auch zu guter
Letzt jene volle Concentrirung des Innern, aus der der geheimste Sang seines
Lebens erfolgt, zum Ergüsse des tiefsten Menschenseins, aus dem trotz aller
Herrlichkeit der Wortdichtung neuer wie alter Zeit unsere heutige Kunst die
Fähigkeit nahm, ihre Gebilde aus dem „intimsten Centrum der Welt" selbst
zu gestalten und dessen geheimes Leben selbst sozusagen greifbar vor uns aus¬
zubreiten. Wir nennen nur Wagner's „Tristan und Isolde".

Und wenn wir diesen äußerlich so nichtssagenden Dingen, die von den
großen Vorwürfen des Lebens wie der Kunst gleich weit abzuliegen scheinen,
dennoch eine solche Bedeutung beilegen, so gedenken wir als einer sichern
Wehr gegen jeden Einwand der kleinlich schwächlichen Sentimentalität des
modernen Empfindens auch hier wieder jener Dichtung, die mit ihrer Absicht
am reinsten am Busen des Denkens und Empfindens unserer Zeit gelegen, und
citiren das Bild jenes Gretchens, die ebenfalls „von ihrem Glauben voll sich
heilig quält, daß sie den liebsten Mann verloren halten soll". Mag es ein
Wahn sein, was sie beseelt, mag hier unbedacht erscheinen, was geltend ist:


„Alles ist nach seiner Art;
an ihr wirst Du nichts ändern,"

und zuletzt in vollem Ernst „Jeder nach seiner Facon selig werden", —es ist
doch das reinste und geradezu heiligste Gefühl, welches das Menschenherz per¬
sönlich bewegen kann. Und daß dasselbe in diesen letzten Lebensjahren auch
unsern Meister mit seiner vollen Macht erfüllt, dem verdanken wir was über¬
haupt davon innerhalb seiner Kunst wach und laut geworden und was demselben
an höherem Schauen und Bilden Herrliches folgte, zunächst jenes Op. 132
und dann die weiteren Op. 130, 131, 13S, die reichste Quelle der Seelendich¬
tung , die sich je erschloß.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/265>, abgerufen am 24.08.2024.