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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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in Gewebe gewoben, durch das geschaut, uns selbst die Welt verklärt,
eine neue Welt begonnen erscheint. Daher wir auch stets wieder durch jene
rhythmischen Schläge auf dieselbe verwiesen werden! Solch schwebende Zart¬
heit des Empfindens wie der Darstellung aber erreicht nur die größte Kraft,
das höchste Können: es muß die volle Höhe der innern Durchbildung ge¬
wonnen sein, ehe so etwas in der Kunst zu Tage tritt, und ihm verbirgt
Kritik wie Beschreibung sich schweigend.

Und wie wird sie bewährt, diese Ankündigung und rechte Beschreibung
jener neuen Welt, der Welt des Heiligen und Seligen, in der jede Span¬
nung der Selbstsucht gelöst ist!

Von dem Adagio der "Neunten" schrieb Kanne: "Ein höchst inniger, ge¬
müthvoller, in wonniger Wehmuth fließender Gesang, in welchem Beethoven's
Herzlichkeit in großer Klarheit erscheint!" Ja wohl Herzlichkeit, und
unendlich mehr. Mit welchem Blick schaut diese Weise Welt und Menschen
an! Unsägliche Güte ist in diesem Blick, und man darf sagen, ein Segens¬
born quillt aus diesen Tönen. Es kehrt die leuchtende Milde wieder, die
in der Musik zuerst aus der Sphäre Sarastro's in der Zauberflöte erklang.
Aber in demselben Maße intensiverer und weithin leuchtenden Glanzes,
als diese Manneskämpfe des Lebens ein Mozart nicht durchzukämpfen
gehabt!

Des Nitornells erwähnten wir schon. Nichts Seelenergreifenderes ist je
geschrieben worden. Es schluchzt und sinkt in sich zusammen. Aber man
weiß nicht, ist's Leid, ist's Wonne? Doch jedenfalls nicht eigenes Leid oder
Gedenken seiner, sondern Mit-Leid mit dem allgemeinen Leid, und in diesem lie¬
benden Aufnehmen -- Wonne. Ausfluß des in der Ueberfülle seines Mit¬
empfindens fast erstickenden Herzens.

Und wie nun dieser Satz, auch nur ein Adagio nach oft gesehener Form,
sich weiter spinnt! Wahrlich hier findet die innere Glückseligkeit des Dichters
selbst kein Ende, denn sie ist die tiefste Wonne des Menschenherzens selbst.
Welche "Freiheit der Phantasie", welche Souveränität und sogar scheinbar ins
fernste schweifende "Abenteuerlichkeit" der Gestaltungen, und doch, ganz an¬
ders als in Op. 120, welch' fühlbarste "Nothwendigkeit" d. h. zwingender
Gehalt der Sache! Und dieser Inhalt von welcher Art er selbst! -- Man
liebt und lobt den Frühling der Natur, wo alles blüht und Nachtigallen
schlagen, lobt den Mai des Lebens, wenn die volle Seligkeit des ersten Sich¬
findens und Sichgebens ausschlägt. Doch was sind ihre Freuden gegen die
Wonnen, die das Gemüth in solchem Zustande wie wir Beethoven hier fanden,
sich bereitet. Wahrhafte Unendlichkeit der Wonne quillt aus diesem Zustand
einer heiligen Liebe, und es ist begreiflich, sie mag nicht nachlassen ihrer selbst
stets spendend zu genießen! -- Da aber, in diesem Zustande der vollen Er-


in Gewebe gewoben, durch das geschaut, uns selbst die Welt verklärt,
eine neue Welt begonnen erscheint. Daher wir auch stets wieder durch jene
rhythmischen Schläge auf dieselbe verwiesen werden! Solch schwebende Zart¬
heit des Empfindens wie der Darstellung aber erreicht nur die größte Kraft,
das höchste Können: es muß die volle Höhe der innern Durchbildung ge¬
wonnen sein, ehe so etwas in der Kunst zu Tage tritt, und ihm verbirgt
Kritik wie Beschreibung sich schweigend.

Und wie wird sie bewährt, diese Ankündigung und rechte Beschreibung
jener neuen Welt, der Welt des Heiligen und Seligen, in der jede Span¬
nung der Selbstsucht gelöst ist!

Von dem Adagio der „Neunten" schrieb Kanne: „Ein höchst inniger, ge¬
müthvoller, in wonniger Wehmuth fließender Gesang, in welchem Beethoven's
Herzlichkeit in großer Klarheit erscheint!" Ja wohl Herzlichkeit, und
unendlich mehr. Mit welchem Blick schaut diese Weise Welt und Menschen
an! Unsägliche Güte ist in diesem Blick, und man darf sagen, ein Segens¬
born quillt aus diesen Tönen. Es kehrt die leuchtende Milde wieder, die
in der Musik zuerst aus der Sphäre Sarastro's in der Zauberflöte erklang.
Aber in demselben Maße intensiverer und weithin leuchtenden Glanzes,
als diese Manneskämpfe des Lebens ein Mozart nicht durchzukämpfen
gehabt!

Des Nitornells erwähnten wir schon. Nichts Seelenergreifenderes ist je
geschrieben worden. Es schluchzt und sinkt in sich zusammen. Aber man
weiß nicht, ist's Leid, ist's Wonne? Doch jedenfalls nicht eigenes Leid oder
Gedenken seiner, sondern Mit-Leid mit dem allgemeinen Leid, und in diesem lie¬
benden Aufnehmen — Wonne. Ausfluß des in der Ueberfülle seines Mit¬
empfindens fast erstickenden Herzens.

Und wie nun dieser Satz, auch nur ein Adagio nach oft gesehener Form,
sich weiter spinnt! Wahrlich hier findet die innere Glückseligkeit des Dichters
selbst kein Ende, denn sie ist die tiefste Wonne des Menschenherzens selbst.
Welche „Freiheit der Phantasie", welche Souveränität und sogar scheinbar ins
fernste schweifende „Abenteuerlichkeit" der Gestaltungen, und doch, ganz an¬
ders als in Op. 120, welch' fühlbarste „Nothwendigkeit" d. h. zwingender
Gehalt der Sache! Und dieser Inhalt von welcher Art er selbst! — Man
liebt und lobt den Frühling der Natur, wo alles blüht und Nachtigallen
schlagen, lobt den Mai des Lebens, wenn die volle Seligkeit des ersten Sich¬
findens und Sichgebens ausschlägt. Doch was sind ihre Freuden gegen die
Wonnen, die das Gemüth in solchem Zustande wie wir Beethoven hier fanden,
sich bereitet. Wahrhafte Unendlichkeit der Wonne quillt aus diesem Zustand
einer heiligen Liebe, und es ist begreiflich, sie mag nicht nachlassen ihrer selbst
stets spendend zu genießen! — Da aber, in diesem Zustande der vollen Er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/262>, abgerufen am 23.07.2024.