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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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ches so viel von Beethoven's Geistesschwung athmet, und daß dies für das
Verständniß dieser späteren Werke und sogar für ihre materielle Verwerthung
nicht ganz gleichgültig war, so braucht man doch nur an Aeußerungen wie
"Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor andern auszeichnen" und das
ganze hohe Selbstbewußtsein früherer Tage zu denken, um zu erkennen, wie
sehr diesem Künstler jetzt selbst auf seinem eigensten Gebiete milde Duldung
und freie Anerkennung der andern Existenz und jeder wirklichen Leistung Be¬
dürfniß geworden. Wie schwer, auch nur das Geringste sei's im Leben, sei's
in der Kunst zu thun, was wirklich "gut" ist, sagt er sich. Und hier schien
dies nach beiden Seiten hin geschehen. So enthält uns dieses Schreiben
einerseits ebensowenig einen Zug der Uebertreibung wie es andrerseits durch¬
aus keine bloße Höflichkeitsbezeugung ist. Wir werden die Züge des freien
Zurücktretens der eigenen Existenz bald sich mehren sehen.

Anders, ganz anders war er jedoch, wo selbst die "liona voluntas" fehlte
und wie bei den "Paternostergäßlern" einzig Eigennutz und sogar "Arglist"
das Thun bestimmten. Da reckt sich der Löwe allerdings in seiner alten
Größe auf und das "Warst du auch heute geduldig mit allen Menschen?"
findet sein Ende. Allein selbst hier, wo die begreiflichste Menschenverachtung
hervorbricht, werden wir durch den entflammten Zorn noch den Strahl jenes
höheren Lichtes leuchten sehen, das ihn jetzt erfüllt und in Op. 127 einen
ersten weitleuchtenden Schein wirft. Wir gehen also jetzt zur näheren Ge¬
schichte und zur Charakterisirung des Werkes selbst über.

Wir erinnern zunächst an eine Besprechung der Sonaten Op. 109--11,
in der von Beethoven selbst gelesenen A. M. Z. vom 1. April 1824, die als
Resultat ihrer Betrachtung aufstellte: "nicht jeder Wendepunkt sei ein Kul¬
minationspunkt" :

"Es mögen ungefähr etwas über 30 Jahre sein, als die herrliche Er¬
scheinung des Beethoven'schen Genius in der musikalischen Kunstwelt zum
ersten Male die Empfänglichen und Gebildeten entzückte. Dieser Genius schuf
eine neue Epoche. Alle Bedingungen eines musikalischen Kunstwerkes: Er¬
findung, Geist und Gefühl in Melodie, Harmonie und Rhythmik wurden von
Hrn. v. B. auf eine neue ihm eigenthümliche Weise erfüllt. Daß bald eine
Opposition sich auch dieser Originalität entgegenstemmte, ist ebenso bekannt als
unter ähnlichen Umständen gewöhnlich. Die Bestrebungen zu mäkeln hatten
indessen nur einen geringen flüchtigen Erfolg. Der Heros B. siegte voll¬
ständig. Kaum waren noch einige seiner Kunstschöpfungen in die Welt ge¬
treten, so war auch dessen Ruhm für immer begründet. So steht auch heute
noch dieser originelle Geist unter seinen Zeitgenossen unerreicht da. Nur sehr
selten ist er auf seiner langen Künstlerbahn für kurze Augenblicke abgewichen


ches so viel von Beethoven's Geistesschwung athmet, und daß dies für das
Verständniß dieser späteren Werke und sogar für ihre materielle Verwerthung
nicht ganz gleichgültig war, so braucht man doch nur an Aeußerungen wie
„Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor andern auszeichnen" und das
ganze hohe Selbstbewußtsein früherer Tage zu denken, um zu erkennen, wie
sehr diesem Künstler jetzt selbst auf seinem eigensten Gebiete milde Duldung
und freie Anerkennung der andern Existenz und jeder wirklichen Leistung Be¬
dürfniß geworden. Wie schwer, auch nur das Geringste sei's im Leben, sei's
in der Kunst zu thun, was wirklich „gut" ist, sagt er sich. Und hier schien
dies nach beiden Seiten hin geschehen. So enthält uns dieses Schreiben
einerseits ebensowenig einen Zug der Uebertreibung wie es andrerseits durch¬
aus keine bloße Höflichkeitsbezeugung ist. Wir werden die Züge des freien
Zurücktretens der eigenen Existenz bald sich mehren sehen.

Anders, ganz anders war er jedoch, wo selbst die „liona voluntas" fehlte
und wie bei den „Paternostergäßlern" einzig Eigennutz und sogar „Arglist"
das Thun bestimmten. Da reckt sich der Löwe allerdings in seiner alten
Größe auf und das „Warst du auch heute geduldig mit allen Menschen?"
findet sein Ende. Allein selbst hier, wo die begreiflichste Menschenverachtung
hervorbricht, werden wir durch den entflammten Zorn noch den Strahl jenes
höheren Lichtes leuchten sehen, das ihn jetzt erfüllt und in Op. 127 einen
ersten weitleuchtenden Schein wirft. Wir gehen also jetzt zur näheren Ge¬
schichte und zur Charakterisirung des Werkes selbst über.

Wir erinnern zunächst an eine Besprechung der Sonaten Op. 109—11,
in der von Beethoven selbst gelesenen A. M. Z. vom 1. April 1824, die als
Resultat ihrer Betrachtung aufstellte: „nicht jeder Wendepunkt sei ein Kul¬
minationspunkt" :

„Es mögen ungefähr etwas über 30 Jahre sein, als die herrliche Er¬
scheinung des Beethoven'schen Genius in der musikalischen Kunstwelt zum
ersten Male die Empfänglichen und Gebildeten entzückte. Dieser Genius schuf
eine neue Epoche. Alle Bedingungen eines musikalischen Kunstwerkes: Er¬
findung, Geist und Gefühl in Melodie, Harmonie und Rhythmik wurden von
Hrn. v. B. auf eine neue ihm eigenthümliche Weise erfüllt. Daß bald eine
Opposition sich auch dieser Originalität entgegenstemmte, ist ebenso bekannt als
unter ähnlichen Umständen gewöhnlich. Die Bestrebungen zu mäkeln hatten
indessen nur einen geringen flüchtigen Erfolg. Der Heros B. siegte voll¬
ständig. Kaum waren noch einige seiner Kunstschöpfungen in die Welt ge¬
treten, so war auch dessen Ruhm für immer begründet. So steht auch heute
noch dieser originelle Geist unter seinen Zeitgenossen unerreicht da. Nur sehr
selten ist er auf seiner langen Künstlerbahn für kurze Augenblicke abgewichen


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[0259] ches so viel von Beethoven's Geistesschwung athmet, und daß dies für das Verständniß dieser späteren Werke und sogar für ihre materielle Verwerthung nicht ganz gleichgültig war, so braucht man doch nur an Aeußerungen wie „Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor andern auszeichnen" und das ganze hohe Selbstbewußtsein früherer Tage zu denken, um zu erkennen, wie sehr diesem Künstler jetzt selbst auf seinem eigensten Gebiete milde Duldung und freie Anerkennung der andern Existenz und jeder wirklichen Leistung Be¬ dürfniß geworden. Wie schwer, auch nur das Geringste sei's im Leben, sei's in der Kunst zu thun, was wirklich „gut" ist, sagt er sich. Und hier schien dies nach beiden Seiten hin geschehen. So enthält uns dieses Schreiben einerseits ebensowenig einen Zug der Uebertreibung wie es andrerseits durch¬ aus keine bloße Höflichkeitsbezeugung ist. Wir werden die Züge des freien Zurücktretens der eigenen Existenz bald sich mehren sehen. Anders, ganz anders war er jedoch, wo selbst die „liona voluntas" fehlte und wie bei den „Paternostergäßlern" einzig Eigennutz und sogar „Arglist" das Thun bestimmten. Da reckt sich der Löwe allerdings in seiner alten Größe auf und das „Warst du auch heute geduldig mit allen Menschen?" findet sein Ende. Allein selbst hier, wo die begreiflichste Menschenverachtung hervorbricht, werden wir durch den entflammten Zorn noch den Strahl jenes höheren Lichtes leuchten sehen, das ihn jetzt erfüllt und in Op. 127 einen ersten weitleuchtenden Schein wirft. Wir gehen also jetzt zur näheren Ge¬ schichte und zur Charakterisirung des Werkes selbst über. Wir erinnern zunächst an eine Besprechung der Sonaten Op. 109—11, in der von Beethoven selbst gelesenen A. M. Z. vom 1. April 1824, die als Resultat ihrer Betrachtung aufstellte: „nicht jeder Wendepunkt sei ein Kul¬ minationspunkt" : „Es mögen ungefähr etwas über 30 Jahre sein, als die herrliche Er¬ scheinung des Beethoven'schen Genius in der musikalischen Kunstwelt zum ersten Male die Empfänglichen und Gebildeten entzückte. Dieser Genius schuf eine neue Epoche. Alle Bedingungen eines musikalischen Kunstwerkes: Er¬ findung, Geist und Gefühl in Melodie, Harmonie und Rhythmik wurden von Hrn. v. B. auf eine neue ihm eigenthümliche Weise erfüllt. Daß bald eine Opposition sich auch dieser Originalität entgegenstemmte, ist ebenso bekannt als unter ähnlichen Umständen gewöhnlich. Die Bestrebungen zu mäkeln hatten indessen nur einen geringen flüchtigen Erfolg. Der Heros B. siegte voll¬ ständig. Kaum waren noch einige seiner Kunstschöpfungen in die Welt ge¬ treten, so war auch dessen Ruhm für immer begründet. So steht auch heute noch dieser originelle Geist unter seinen Zeitgenossen unerreicht da. Nur sehr selten ist er auf seiner langen Künstlerbahn für kurze Augenblicke abgewichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/259>, abgerufen am 22.07.2024.