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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Kirche der Zusammenhang mit ihm festgehalten und durch die Anerkennung
seiner hohen sittlichen Aufgabe begründet worden. Wo dagegen der Staat
die wirklichen oder vermeintlichen Interessen der Kirche geschädigt hat, wo er
seine Grenzen überschritten und die Freiheit des religiösen Bekenntnisses ver¬
letzt hat, da ist der sittliche Gehalt des Staates gering geschätzt worden und
die Neigung zur Bildung von Freikirchen entstanden. Staatskirche und Frei¬
kirche sind in erster Linie Erzeugnisse besonderer geschichtlicher Entwicklungen,
nicht aber die Frucht heterogener Prinzipien verschiedener kirchenpolitischer Ueber¬
zeugungen. Diese begleiten jene; sie sind nur der ideelle Schatten, welchen die
kirchenpolitischen Realitäten werfen.

Und daß es sich so verhält, das hat seinen guten Grund. Die Kirche be¬
vorzugt an sich keine bestimmte Verfassung, sie hat die verschiedensten Gestaltungen
derselben hervorgebracht und in jeder die Segnungen des Evangeliums
christlicher Gesittung der Menschheit gespendet. Die elementaren Ordnungen
der Urkirche, die Nachbildung der Synagoge, die episkopale Hierarchie, die
päpstliche Theokratie, die konsistoriale Staatskirche -- welche Wandlungen
hat die Verfassung der Kirche erfahren! Und jede Form derselben
war in gewisser Hinsicht zu bestimmter Zeit angemessen, das geeignete
Werkzeug, durch welches die Kirche unter den gegebenen Verhältnissen
am besten die ihr gestellten Aufgaben lösen konnte. Darin erweist sich die
Kirche als die Trägerin der ewigen Wahrheit, daß sie an keine zeitliche Er¬
scheinung ihrer Verwirklichung gebunden ist, sondern sie alle überlebt und zu
Momenten ihrer Entwicklung macht. Sie streift ein Gewand ab, das sie
lange Zeit getragen, ihre Gegner rufen: es geht mit ihr zu Ende; aber sie
haben sich geirrt, sie hat nur ein andres Kleid angelegt, wie es durch den
Wandel der Verhältnisse gefordert wird. Es giebt keine Kirchenverfassung'
die nicht ihrer Zeit als mustergültig gepriesen worden ist, es giebt keine Kir-
chenverfassung, die nicht ihrer Zeit als unbrauchbar bei Seite gelegt wurde.
Dieselben Beobachtungen drängen sich auf, wenn wir auf das wechselnde Ver¬
hältniß blicken, welches die Kirche im Laufe der Zeiten zum Staate eingenom¬
men hat. Denn dasselbe bildet eine Seite ihrer Verfassung, die Kirche h^
dreihundert Jahre lang ihn gefürchtet, geachtet, aber für ihre kirchenpolitischen Er¬
wägungen ignorirt. Das lag in der Natur der Sache. Die Märtyrerkirche konnte
nicht anders verfahren. Sie hat dann Jahrhunderte lang im engsten Zusammen'
hange mit ihm gelebt und hat ebenso ihm einen bald gesetzlich geregelten bald that¬
sächlich geduldeten Einfluß auf ihre Angelegenheiten eingeräumt, wie der
Staat seinerseits ihn von ihr empfing. In diesem Verhältnisse bildeten beide
Faktoren eine Einheit, in welcher die Uebergriffe des einen in das Gebiet des
andern wenig empfunden wurden. Und wer wollte leugnen, daß es diese Einheit
zwischen Kirche und Staat war, welcher Europa Christenthum und Cultur


Kirche der Zusammenhang mit ihm festgehalten und durch die Anerkennung
seiner hohen sittlichen Aufgabe begründet worden. Wo dagegen der Staat
die wirklichen oder vermeintlichen Interessen der Kirche geschädigt hat, wo er
seine Grenzen überschritten und die Freiheit des religiösen Bekenntnisses ver¬
letzt hat, da ist der sittliche Gehalt des Staates gering geschätzt worden und
die Neigung zur Bildung von Freikirchen entstanden. Staatskirche und Frei¬
kirche sind in erster Linie Erzeugnisse besonderer geschichtlicher Entwicklungen,
nicht aber die Frucht heterogener Prinzipien verschiedener kirchenpolitischer Ueber¬
zeugungen. Diese begleiten jene; sie sind nur der ideelle Schatten, welchen die
kirchenpolitischen Realitäten werfen.

Und daß es sich so verhält, das hat seinen guten Grund. Die Kirche be¬
vorzugt an sich keine bestimmte Verfassung, sie hat die verschiedensten Gestaltungen
derselben hervorgebracht und in jeder die Segnungen des Evangeliums
christlicher Gesittung der Menschheit gespendet. Die elementaren Ordnungen
der Urkirche, die Nachbildung der Synagoge, die episkopale Hierarchie, die
päpstliche Theokratie, die konsistoriale Staatskirche — welche Wandlungen
hat die Verfassung der Kirche erfahren! Und jede Form derselben
war in gewisser Hinsicht zu bestimmter Zeit angemessen, das geeignete
Werkzeug, durch welches die Kirche unter den gegebenen Verhältnissen
am besten die ihr gestellten Aufgaben lösen konnte. Darin erweist sich die
Kirche als die Trägerin der ewigen Wahrheit, daß sie an keine zeitliche Er¬
scheinung ihrer Verwirklichung gebunden ist, sondern sie alle überlebt und zu
Momenten ihrer Entwicklung macht. Sie streift ein Gewand ab, das sie
lange Zeit getragen, ihre Gegner rufen: es geht mit ihr zu Ende; aber sie
haben sich geirrt, sie hat nur ein andres Kleid angelegt, wie es durch den
Wandel der Verhältnisse gefordert wird. Es giebt keine Kirchenverfassung'
die nicht ihrer Zeit als mustergültig gepriesen worden ist, es giebt keine Kir-
chenverfassung, die nicht ihrer Zeit als unbrauchbar bei Seite gelegt wurde.
Dieselben Beobachtungen drängen sich auf, wenn wir auf das wechselnde Ver¬
hältniß blicken, welches die Kirche im Laufe der Zeiten zum Staate eingenom¬
men hat. Denn dasselbe bildet eine Seite ihrer Verfassung, die Kirche h^
dreihundert Jahre lang ihn gefürchtet, geachtet, aber für ihre kirchenpolitischen Er¬
wägungen ignorirt. Das lag in der Natur der Sache. Die Märtyrerkirche konnte
nicht anders verfahren. Sie hat dann Jahrhunderte lang im engsten Zusammen'
hange mit ihm gelebt und hat ebenso ihm einen bald gesetzlich geregelten bald that¬
sächlich geduldeten Einfluß auf ihre Angelegenheiten eingeräumt, wie der
Staat seinerseits ihn von ihr empfing. In diesem Verhältnisse bildeten beide
Faktoren eine Einheit, in welcher die Uebergriffe des einen in das Gebiet des
andern wenig empfunden wurden. Und wer wollte leugnen, daß es diese Einheit
zwischen Kirche und Staat war, welcher Europa Christenthum und Cultur


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[0166] Kirche der Zusammenhang mit ihm festgehalten und durch die Anerkennung seiner hohen sittlichen Aufgabe begründet worden. Wo dagegen der Staat die wirklichen oder vermeintlichen Interessen der Kirche geschädigt hat, wo er seine Grenzen überschritten und die Freiheit des religiösen Bekenntnisses ver¬ letzt hat, da ist der sittliche Gehalt des Staates gering geschätzt worden und die Neigung zur Bildung von Freikirchen entstanden. Staatskirche und Frei¬ kirche sind in erster Linie Erzeugnisse besonderer geschichtlicher Entwicklungen, nicht aber die Frucht heterogener Prinzipien verschiedener kirchenpolitischer Ueber¬ zeugungen. Diese begleiten jene; sie sind nur der ideelle Schatten, welchen die kirchenpolitischen Realitäten werfen. Und daß es sich so verhält, das hat seinen guten Grund. Die Kirche be¬ vorzugt an sich keine bestimmte Verfassung, sie hat die verschiedensten Gestaltungen derselben hervorgebracht und in jeder die Segnungen des Evangeliums christlicher Gesittung der Menschheit gespendet. Die elementaren Ordnungen der Urkirche, die Nachbildung der Synagoge, die episkopale Hierarchie, die päpstliche Theokratie, die konsistoriale Staatskirche — welche Wandlungen hat die Verfassung der Kirche erfahren! Und jede Form derselben war in gewisser Hinsicht zu bestimmter Zeit angemessen, das geeignete Werkzeug, durch welches die Kirche unter den gegebenen Verhältnissen am besten die ihr gestellten Aufgaben lösen konnte. Darin erweist sich die Kirche als die Trägerin der ewigen Wahrheit, daß sie an keine zeitliche Er¬ scheinung ihrer Verwirklichung gebunden ist, sondern sie alle überlebt und zu Momenten ihrer Entwicklung macht. Sie streift ein Gewand ab, das sie lange Zeit getragen, ihre Gegner rufen: es geht mit ihr zu Ende; aber sie haben sich geirrt, sie hat nur ein andres Kleid angelegt, wie es durch den Wandel der Verhältnisse gefordert wird. Es giebt keine Kirchenverfassung' die nicht ihrer Zeit als mustergültig gepriesen worden ist, es giebt keine Kir- chenverfassung, die nicht ihrer Zeit als unbrauchbar bei Seite gelegt wurde. Dieselben Beobachtungen drängen sich auf, wenn wir auf das wechselnde Ver¬ hältniß blicken, welches die Kirche im Laufe der Zeiten zum Staate eingenom¬ men hat. Denn dasselbe bildet eine Seite ihrer Verfassung, die Kirche h^ dreihundert Jahre lang ihn gefürchtet, geachtet, aber für ihre kirchenpolitischen Er¬ wägungen ignorirt. Das lag in der Natur der Sache. Die Märtyrerkirche konnte nicht anders verfahren. Sie hat dann Jahrhunderte lang im engsten Zusammen' hange mit ihm gelebt und hat ebenso ihm einen bald gesetzlich geregelten bald that¬ sächlich geduldeten Einfluß auf ihre Angelegenheiten eingeräumt, wie der Staat seinerseits ihn von ihr empfing. In diesem Verhältnisse bildeten beide Faktoren eine Einheit, in welcher die Uebergriffe des einen in das Gebiet des andern wenig empfunden wurden. Und wer wollte leugnen, daß es diese Einheit zwischen Kirche und Staat war, welcher Europa Christenthum und Cultur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/166>, abgerufen am 22.07.2024.