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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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auf ihn zugleich die Degeneration, welche die Familie der Claudier sich durch
wiederholte Heirathen in der eignen Verwandtschaft zugezogen hatte, eine De¬
generation, welche sich noch heute in manchen bürgerlichen und adeligen Ge¬
schlechtern geltend macht und in geometrischer Progression manche Dynastien
derartig heimsucht, daß nach einer Angabe Esquirol's auf sechzig Angehörige
dieser Familien ein Geisteskranker fällt, während man sonst einen solchen erst
unter sechshundert Menschen antrifft. Diese geistige Erkrankung zeigte sich bei
Tiberius schon in seiner Jugend. Er war ein scheuer, verschlossner, mürrischer
Knabe, der wegen seines unjugendlichen Wesens frühzeitig "der Alte" genannt
wurde. Er war nicht blos unliebenswürdig, sondern auch von wilder,
tückischer Gemüthsart, ein Menschen- und Thierquäler, so daß ihn sein Haus¬
lehrer "einen mit Blut durchkneteten Thonklumpen" schalt. Später entwickelte
sich neben glänzenden Talenten diese Krankheit immer mehr zur Melancholie
und zuletzt zum Verfolgungswahn. Die Entwicklungsgeschichte derselben giebt
Ättedemeister in folgendem Ueberblick über die von ihm vorher ausführlich
dargestellten Ereignisse und Wendungen im Leben dieses Kaisers:

"Durch seine Geburt dem Throne nahe gestellt, durch seine Vorfahren
Erbe eines so trotzigen und hoffährtigen Sinnes, daß die meisten neuern
Schriftsteller darin eine der Geisteskrankheit wenigstens nahestehende krankhafte
Charaktereigenthümlichkeit seiner Ahnen entdecken, durch seine strategischen und
diplomatischen Talente zu einer hervorragenden Rolle in dem ersten Reiche
der Welt bestimmt, verläßt er, mitten im Glücke und bekränzt mit Ehren, wie
sie nur Erdenruhm zu gewähren vermag, in einem Augenblicke, wo der Staat
und seine eigne Zukunft seine Anwesenheit dringend erfordern, Rom, um sich
^f der abgelegnen Insel Rhodus dem Treiben der Weltstadt zu entziehen.
Ein charakteristisches Symptom der Melancholie, eine viertägige Nahrungs¬
verweigerung, eröffnet die Scene. Das Gefühl, unglücklich und unwürdig zu
sein, bemächtigt sich des kaiserlichen Prinzen so sehr, daß er sich verächtlichen
^riechen im Range gleichstellt, seine Dienerschaft bis auf wenige entläßt, seine
Kleidung vernachlässigt, sich des römischen Namens für unwerth hält und,
UM jedes Verkehrs mit den Inselbewohnern und Besuchern enthoben zu sein,
steh auf entlegenen Aeckern versteckt. Die Intensität der nicht erkannten
Krankheit nimmt hierauf für eine Weile ab. Nicht geheilt, denn er leidet
Uvah an Hallucinationen, sondern dem Zuge aller Melancholiker folgend, die
steh immer nach einem Wechsel ihres Wohnortes sehnen, verläßt er Rhodus
Um eine demüthigende Stellung in Rom einzunehmen. Der Groll seiner
von der Krankheit seines Gemüthes nichts ahnenden Verwandten läßt nach.
Und er wird von Neuem mit wichtigen diplomatischen und militärischen
Aufgaben betraut, deren er sich trotz seiner geschwächten Gesundheit mit aus¬
gezeichnetem Erfolg entledigt. Erschöpft an Körper und Geist wird er auf


auf ihn zugleich die Degeneration, welche die Familie der Claudier sich durch
wiederholte Heirathen in der eignen Verwandtschaft zugezogen hatte, eine De¬
generation, welche sich noch heute in manchen bürgerlichen und adeligen Ge¬
schlechtern geltend macht und in geometrischer Progression manche Dynastien
derartig heimsucht, daß nach einer Angabe Esquirol's auf sechzig Angehörige
dieser Familien ein Geisteskranker fällt, während man sonst einen solchen erst
unter sechshundert Menschen antrifft. Diese geistige Erkrankung zeigte sich bei
Tiberius schon in seiner Jugend. Er war ein scheuer, verschlossner, mürrischer
Knabe, der wegen seines unjugendlichen Wesens frühzeitig „der Alte" genannt
wurde. Er war nicht blos unliebenswürdig, sondern auch von wilder,
tückischer Gemüthsart, ein Menschen- und Thierquäler, so daß ihn sein Haus¬
lehrer „einen mit Blut durchkneteten Thonklumpen" schalt. Später entwickelte
sich neben glänzenden Talenten diese Krankheit immer mehr zur Melancholie
und zuletzt zum Verfolgungswahn. Die Entwicklungsgeschichte derselben giebt
Ättedemeister in folgendem Ueberblick über die von ihm vorher ausführlich
dargestellten Ereignisse und Wendungen im Leben dieses Kaisers:

„Durch seine Geburt dem Throne nahe gestellt, durch seine Vorfahren
Erbe eines so trotzigen und hoffährtigen Sinnes, daß die meisten neuern
Schriftsteller darin eine der Geisteskrankheit wenigstens nahestehende krankhafte
Charaktereigenthümlichkeit seiner Ahnen entdecken, durch seine strategischen und
diplomatischen Talente zu einer hervorragenden Rolle in dem ersten Reiche
der Welt bestimmt, verläßt er, mitten im Glücke und bekränzt mit Ehren, wie
sie nur Erdenruhm zu gewähren vermag, in einem Augenblicke, wo der Staat
und seine eigne Zukunft seine Anwesenheit dringend erfordern, Rom, um sich
^f der abgelegnen Insel Rhodus dem Treiben der Weltstadt zu entziehen.
Ein charakteristisches Symptom der Melancholie, eine viertägige Nahrungs¬
verweigerung, eröffnet die Scene. Das Gefühl, unglücklich und unwürdig zu
sein, bemächtigt sich des kaiserlichen Prinzen so sehr, daß er sich verächtlichen
^riechen im Range gleichstellt, seine Dienerschaft bis auf wenige entläßt, seine
Kleidung vernachlässigt, sich des römischen Namens für unwerth hält und,
UM jedes Verkehrs mit den Inselbewohnern und Besuchern enthoben zu sein,
steh auf entlegenen Aeckern versteckt. Die Intensität der nicht erkannten
Krankheit nimmt hierauf für eine Weile ab. Nicht geheilt, denn er leidet
Uvah an Hallucinationen, sondern dem Zuge aller Melancholiker folgend, die
steh immer nach einem Wechsel ihres Wohnortes sehnen, verläßt er Rhodus
Um eine demüthigende Stellung in Rom einzunehmen. Der Groll seiner
von der Krankheit seines Gemüthes nichts ahnenden Verwandten läßt nach.
Und er wird von Neuem mit wichtigen diplomatischen und militärischen
Aufgaben betraut, deren er sich trotz seiner geschwächten Gesundheit mit aus¬
gezeichnetem Erfolg entledigt. Erschöpft an Körper und Geist wird er auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/137>, abgerufen am 22.07.2024.