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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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bewegt, so gewinnt sie mit der Macht über das Gemüth auch eine stille Macht
über den Geist der Gesetzgebung und Verwaltung. Es liegt darin ihr eigentlicher
Beruf."*) "Die Theorie von Trennung der Kirche und des Staates entsteht nur
als Nothbehelf in den Zeiten unweiser Conflikte, in den Zeiten der hart¬
näckigen Anmaßungen, sei es von Seiten der Kirche oder des Staates. Beide
bedürfen einander. Die Kirche bedarf des Staates, damit ihr die äußern
Gesetze -- der sittliche Nachdruck des Staates, der Arm der weltlichen Ge¬
rechtigkeit, die bürgerlichen Einrichtungen -- den Boden bereiten und das
Gebiet einer Wirksamkeit sichern. Der Staat bedarf umgekehrt der Kirche,
um sich selbst und seine Genossen aus dem innersten Grunde des menschlichen
Wesens zu beleben und sich vor dem Verderben zu bewahren, in das ihn
sonst die ungehemmte Moral der Selbstliebe und des Wohlseins hineinzieht.
Es ist dem Staate zum Heil, wenn die Kirche fortwährend daran arbeitet,
die Menschen, die seine Glieder sind, aus dem Gefängniß augenblicklicher und
selbstischer Stimmungen und Gedanken zu befreien und das harte selbstsüchtige
Herz in Empfindungen des Ewigen zu schmelzen."**)

Je höher der sittliche Werth des Staats gestellt wird, das ist das Re¬
sultat, welches sich uns ergibt, desto mehr Neigung ist auch vorhanden, ein
enges und inniges Band zwischen ihm und der Kirche zu knüpfen; je ge¬
ringer dagegen der sittliche Werth des Staats geschätzt wird, desto mehr zeigt
sich auch das Bedürfniß, das Band zwischen Staat und Kirche zu lösen.
Und diese verschiedene Würdigung des Staats ist meistens durch die konkrete
Gestaltungen der jedesmaligen Richtung desselben bedingt. Daß die katho¬
lische Kirche des Mittelalters dem Staat ein höheres sittliches Leben absprach,
war wohl begründet. Der mittelalterliche Staat, der überhaupt nur wer¬
dender Staat war, besaß in der That nur ein geringes Maß sittlicher Kräfte,
und die Kirche, welcher er die Kultur zu danken hatte, konnte sich mit gutem
Recht als den Kanal ansehen, durch welchen er allein einen sittlichen Inhalt
empfange. Gegenwärtig freilich kann die katholische Kirche diese Behauptung
nicht ohne verschuldete Selbsttäuschung aussprechen. Wenn sie es thut, so
geschieht es, weil sie vermöge des sie beherrschenden Stabilitätsprinzips sich
immer noch im Mittelalter wähnt. Und ebenfalls haben sich Freikirchen nur
da gebildet, wo Staaten, momentan wenigstens, sei es wirklich, sei es in der
Voraussetzung der die Staatskirche verlassenden, den ihnen eignenden sittlichen
Gehalt gemindert oder verleugnet hatten. Daß die Reformatoren aber dem
Staate eine so hohe sittliche Bedeutung zuerkannten und deßhalb eine so nahe
Beziehung der Kirche zu ihm herstellten, war die Folge davon, daß die Fürsten




") a. a. O. S. 39?; -- 4.
*) a. a. O. S. 395 -- t>.

bewegt, so gewinnt sie mit der Macht über das Gemüth auch eine stille Macht
über den Geist der Gesetzgebung und Verwaltung. Es liegt darin ihr eigentlicher
Beruf."*) „Die Theorie von Trennung der Kirche und des Staates entsteht nur
als Nothbehelf in den Zeiten unweiser Conflikte, in den Zeiten der hart¬
näckigen Anmaßungen, sei es von Seiten der Kirche oder des Staates. Beide
bedürfen einander. Die Kirche bedarf des Staates, damit ihr die äußern
Gesetze — der sittliche Nachdruck des Staates, der Arm der weltlichen Ge¬
rechtigkeit, die bürgerlichen Einrichtungen — den Boden bereiten und das
Gebiet einer Wirksamkeit sichern. Der Staat bedarf umgekehrt der Kirche,
um sich selbst und seine Genossen aus dem innersten Grunde des menschlichen
Wesens zu beleben und sich vor dem Verderben zu bewahren, in das ihn
sonst die ungehemmte Moral der Selbstliebe und des Wohlseins hineinzieht.
Es ist dem Staate zum Heil, wenn die Kirche fortwährend daran arbeitet,
die Menschen, die seine Glieder sind, aus dem Gefängniß augenblicklicher und
selbstischer Stimmungen und Gedanken zu befreien und das harte selbstsüchtige
Herz in Empfindungen des Ewigen zu schmelzen."**)

Je höher der sittliche Werth des Staats gestellt wird, das ist das Re¬
sultat, welches sich uns ergibt, desto mehr Neigung ist auch vorhanden, ein
enges und inniges Band zwischen ihm und der Kirche zu knüpfen; je ge¬
ringer dagegen der sittliche Werth des Staats geschätzt wird, desto mehr zeigt
sich auch das Bedürfniß, das Band zwischen Staat und Kirche zu lösen.
Und diese verschiedene Würdigung des Staats ist meistens durch die konkrete
Gestaltungen der jedesmaligen Richtung desselben bedingt. Daß die katho¬
lische Kirche des Mittelalters dem Staat ein höheres sittliches Leben absprach,
war wohl begründet. Der mittelalterliche Staat, der überhaupt nur wer¬
dender Staat war, besaß in der That nur ein geringes Maß sittlicher Kräfte,
und die Kirche, welcher er die Kultur zu danken hatte, konnte sich mit gutem
Recht als den Kanal ansehen, durch welchen er allein einen sittlichen Inhalt
empfange. Gegenwärtig freilich kann die katholische Kirche diese Behauptung
nicht ohne verschuldete Selbsttäuschung aussprechen. Wenn sie es thut, so
geschieht es, weil sie vermöge des sie beherrschenden Stabilitätsprinzips sich
immer noch im Mittelalter wähnt. Und ebenfalls haben sich Freikirchen nur
da gebildet, wo Staaten, momentan wenigstens, sei es wirklich, sei es in der
Voraussetzung der die Staatskirche verlassenden, den ihnen eignenden sittlichen
Gehalt gemindert oder verleugnet hatten. Daß die Reformatoren aber dem
Staate eine so hohe sittliche Bedeutung zuerkannten und deßhalb eine so nahe
Beziehung der Kirche zu ihm herstellten, war die Folge davon, daß die Fürsten




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/132>, abgerufen am 22.07.2024.