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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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religiöse Gefühl ausrottet, durch das er herrscht, und der Versuch, dasselbe
auszurotten, würde die Nation der Gefahr unterzugehen aussetzen.

Der regelmäßige Fortschritt ist in den katholischen Ländern sehr schwierig,
weil, indem die Kirche in allen Dingen ihre Herrschaft geltend zu machen
bestrebt ist, die Lebenskräfte der Nation fast unausschließlich mit der Zurück¬
drängung der Anmaßungen des Klerus verbraucht werden. Man betrachte
die Vorgänge in Belgien. Alle Anstrengung der Parteien ist in dieser einzigen
Frage, concentrirt, alle andern Interessen, selbst das unsrer nationalen Ver¬
theidigung und unserer unabhängigen Existenz sind ihr untergeordnet. Der
Kampf brennt so heiß, daß wir schon zwei Mal am Vorabend eines gewalt¬
samen Ausbruchs standen, und daß wir es nur der Klugheit unseres Souverains
danken, wenn wir der Gefahr entgangen sind. Die Kräfte aber, die auf
den Kampf mit der clericalen Partei verwendet werden, sind für den Fort¬
schritt verloren; denn selbst wenn sie den Sieg davon tragen, so hat es kein
anderes Ergebniß als das negative, daß wir nicht unter das Joch der
Bischöfe gerathen.

Die Ehelosigkeit der Priester, die unbedingte Unterwerfung der ganzen
kirchlichen Hierarchie unter den Willen eines Einzigen und die Vermehrung
der Mönchsorden bilden für die katholischen Länder eine Bedrohung, welche
die protestantischen nicht kennen.

Ich bewundere es, wenn ein Mann aus die Freuden der Familie ver¬
zichtet, um sich seinen Pflichten und dem zu widmen, was ihm die Wahrheit
ist. Der Apostel Paulus hat Recht, wenn er meint, daß der, welcher eine
schwierige Aufgabe zu erfüllen hat, nicht heirathen soll. Wenn aber alle
Priester gezwungenermaßen ehelos leben, so erwächst daraus, abgesehen von
der Gefahr für die gute Sitte, eine große Gefahr für den Staat. Denn diese
Priester bilden eine Kaste, die ein besonderes Interesse, verschieden von dem
der Nation hat. Das wahre Vaterland der katholischen Geistlichkeit ist Rom,
das sagt sie selbst offen und ungescheut. Sie wird also, wenn es sein muß,
das Land, dem sie angehört, dem Wohle und der Herrschaft des Papstes
opfern, des unfehlbaren Oberhauptes ihrer Kirche und des Vertreters Gottes
auf Erden. In erster Linie Katholik, dann erst, wenn es das Interesse des
Katholicismus gestattet, Belgier, Franzose oder Deutscher, so muß es sein
vom katholischen Gesichtspunkte. Der richtige katholische Priester kann nicht
anders.

Als in Belgien die liberale Partei am Ruder war und Napoleon der
Dritte vor dem italienischen Kriege sich als Vertheidiger der Kirche geberdete,
hat mir mehr als ein vlämischer Priester gesagt: "Von Süden her wird uns
die Befreiung kommen." Heutzutage verhehlen die deutschen Ultramontanen
nicht, daß sie im Interesse der Kirche Deutschland verrathen würden. Ein


religiöse Gefühl ausrottet, durch das er herrscht, und der Versuch, dasselbe
auszurotten, würde die Nation der Gefahr unterzugehen aussetzen.

Der regelmäßige Fortschritt ist in den katholischen Ländern sehr schwierig,
weil, indem die Kirche in allen Dingen ihre Herrschaft geltend zu machen
bestrebt ist, die Lebenskräfte der Nation fast unausschließlich mit der Zurück¬
drängung der Anmaßungen des Klerus verbraucht werden. Man betrachte
die Vorgänge in Belgien. Alle Anstrengung der Parteien ist in dieser einzigen
Frage, concentrirt, alle andern Interessen, selbst das unsrer nationalen Ver¬
theidigung und unserer unabhängigen Existenz sind ihr untergeordnet. Der
Kampf brennt so heiß, daß wir schon zwei Mal am Vorabend eines gewalt¬
samen Ausbruchs standen, und daß wir es nur der Klugheit unseres Souverains
danken, wenn wir der Gefahr entgangen sind. Die Kräfte aber, die auf
den Kampf mit der clericalen Partei verwendet werden, sind für den Fort¬
schritt verloren; denn selbst wenn sie den Sieg davon tragen, so hat es kein
anderes Ergebniß als das negative, daß wir nicht unter das Joch der
Bischöfe gerathen.

Die Ehelosigkeit der Priester, die unbedingte Unterwerfung der ganzen
kirchlichen Hierarchie unter den Willen eines Einzigen und die Vermehrung
der Mönchsorden bilden für die katholischen Länder eine Bedrohung, welche
die protestantischen nicht kennen.

Ich bewundere es, wenn ein Mann aus die Freuden der Familie ver¬
zichtet, um sich seinen Pflichten und dem zu widmen, was ihm die Wahrheit
ist. Der Apostel Paulus hat Recht, wenn er meint, daß der, welcher eine
schwierige Aufgabe zu erfüllen hat, nicht heirathen soll. Wenn aber alle
Priester gezwungenermaßen ehelos leben, so erwächst daraus, abgesehen von
der Gefahr für die gute Sitte, eine große Gefahr für den Staat. Denn diese
Priester bilden eine Kaste, die ein besonderes Interesse, verschieden von dem
der Nation hat. Das wahre Vaterland der katholischen Geistlichkeit ist Rom,
das sagt sie selbst offen und ungescheut. Sie wird also, wenn es sein muß,
das Land, dem sie angehört, dem Wohle und der Herrschaft des Papstes
opfern, des unfehlbaren Oberhauptes ihrer Kirche und des Vertreters Gottes
auf Erden. In erster Linie Katholik, dann erst, wenn es das Interesse des
Katholicismus gestattet, Belgier, Franzose oder Deutscher, so muß es sein
vom katholischen Gesichtspunkte. Der richtige katholische Priester kann nicht
anders.

Als in Belgien die liberale Partei am Ruder war und Napoleon der
Dritte vor dem italienischen Kriege sich als Vertheidiger der Kirche geberdete,
hat mir mehr als ein vlämischer Priester gesagt: „Von Süden her wird uns
die Befreiung kommen." Heutzutage verhehlen die deutschen Ultramontanen
nicht, daß sie im Interesse der Kirche Deutschland verrathen würden. Ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/103>, abgerufen am 22.07.2024.