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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Erbauung des genannten Thores. Zieht man von diesem 272 Jahre ab,
so verlegen die Verse den Auszug der hamelnschen Kinder in das Jahr 1250.

Am Koppelberge, der ursprünglich ein Kapellen- oder Calvarienberg ge¬
wesen sein wird, standen in alter Zeit zwei Steine in Kreuzesform, welche
die Stelle angeben sollten, an welcher der Rattenfänger mit den Entführten
in die Erde gegangen war.

Ferner konnte man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts an einem
Fenster der Marktkirche eine Darstellung der in Rede stehenden Begebenheit
in Glasmalerei sehen, ein Bild, welches eine ältere Verewigung des Ereig¬
nisses ersetzte, und welches den frommen Pastor Letzner in seiner Chronik der
Stadt Hildesheim, zu folgender wohlgemeinter Ermahnung veranlaßte:

"O ihr lieben christlichen Eltern, schauet und sehet dieses Gemälde nicht
allein schlecht und bloß an, wie eine Kuh oder ein anderes unvernünftiges
Thier ein altes Thor ansteht, sondern betrachtet es christlich in eurem Herzen,
und lasset eure Kinder nicht in der Irre gehen, auf daß der Teufel ihrer
nicht mächtig werde, welches denn gar bald und leicht geschehen kann, sonder¬
lich weil ihnen der Satanas doch so aussätzig und feind ist. Darum haltet
sie zum Morgen- und Abendgebete; das wird christlichen und gottseliger Men¬
schen nicht gereuen."

An einem Hause auf der Papenstraße, das um die Mitte des letztver-
flossnen Jahrhunderts neben dem Wirthshause zum braunen Hirsche stand,
war die Rattenfängergeschichte in Holz geschnitzt zu sehen. An zwei andern
Häusern, dem Kastendieck'schen und dem Neuen, befanden sich 1826 Inschriften,
die sich auf sie bezogen.

Endlich soll der Name einer Gasse in Hameln. welche die Bunge-
lose heißt, und wo an einem Eckhause noch jetzt eine auf den Rattenfänger
bezügliche Inschrift ist, von dem Auszuge der Kinder herrühren, indem die
betrübte Bürgerschaft beschlossen hätte, zum Andenken an ihren Verlust hier
nie wieder eine Bunge, d. h. eine Trommel zu rühren.

In Stein gehauen, aus Glas gemalt, in Holz geschnitzt, durch mehrfache
Inschriften verewigt, im Namen einer alten Straße enthalten, muß unsere
Geschichte früher ungefähr so, wie ich sie erzählte, allgemein geglaubt wor¬
den sein. Seit wann, ist ungewiß. Sicher ist nur, daß auch Gelehrte des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts sie in dieser Gestalt für wahr ge¬
halten haben. Sprenger führt deren eine lange Reihe an. Ich nenne davon
nur Heinrich Bunting mit seiner 1548 erschienenen Braunschweigischen Chronik,
Samuel Erichius mit seinem 1665 gedruckten "LxvÄus II-imvlLnsiiZ" und
Kirchmaier mit seiner "DiWertatio <1e inÄusxioÄto IlamolvNKium vxitü," die
1671 zu Wittenberg herauskam.

Andere Gelehrte freilich, wie der Gröninger Professor Martin Schoocktus


Erbauung des genannten Thores. Zieht man von diesem 272 Jahre ab,
so verlegen die Verse den Auszug der hamelnschen Kinder in das Jahr 1250.

Am Koppelberge, der ursprünglich ein Kapellen- oder Calvarienberg ge¬
wesen sein wird, standen in alter Zeit zwei Steine in Kreuzesform, welche
die Stelle angeben sollten, an welcher der Rattenfänger mit den Entführten
in die Erde gegangen war.

Ferner konnte man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts an einem
Fenster der Marktkirche eine Darstellung der in Rede stehenden Begebenheit
in Glasmalerei sehen, ein Bild, welches eine ältere Verewigung des Ereig¬
nisses ersetzte, und welches den frommen Pastor Letzner in seiner Chronik der
Stadt Hildesheim, zu folgender wohlgemeinter Ermahnung veranlaßte:

„O ihr lieben christlichen Eltern, schauet und sehet dieses Gemälde nicht
allein schlecht und bloß an, wie eine Kuh oder ein anderes unvernünftiges
Thier ein altes Thor ansteht, sondern betrachtet es christlich in eurem Herzen,
und lasset eure Kinder nicht in der Irre gehen, auf daß der Teufel ihrer
nicht mächtig werde, welches denn gar bald und leicht geschehen kann, sonder¬
lich weil ihnen der Satanas doch so aussätzig und feind ist. Darum haltet
sie zum Morgen- und Abendgebete; das wird christlichen und gottseliger Men¬
schen nicht gereuen."

An einem Hause auf der Papenstraße, das um die Mitte des letztver-
flossnen Jahrhunderts neben dem Wirthshause zum braunen Hirsche stand,
war die Rattenfängergeschichte in Holz geschnitzt zu sehen. An zwei andern
Häusern, dem Kastendieck'schen und dem Neuen, befanden sich 1826 Inschriften,
die sich auf sie bezogen.

Endlich soll der Name einer Gasse in Hameln. welche die Bunge-
lose heißt, und wo an einem Eckhause noch jetzt eine auf den Rattenfänger
bezügliche Inschrift ist, von dem Auszuge der Kinder herrühren, indem die
betrübte Bürgerschaft beschlossen hätte, zum Andenken an ihren Verlust hier
nie wieder eine Bunge, d. h. eine Trommel zu rühren.

In Stein gehauen, aus Glas gemalt, in Holz geschnitzt, durch mehrfache
Inschriften verewigt, im Namen einer alten Straße enthalten, muß unsere
Geschichte früher ungefähr so, wie ich sie erzählte, allgemein geglaubt wor¬
den sein. Seit wann, ist ungewiß. Sicher ist nur, daß auch Gelehrte des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts sie in dieser Gestalt für wahr ge¬
halten haben. Sprenger führt deren eine lange Reihe an. Ich nenne davon
nur Heinrich Bunting mit seiner 1548 erschienenen Braunschweigischen Chronik,
Samuel Erichius mit seinem 1665 gedruckten „LxvÄus II-imvlLnsiiZ" und
Kirchmaier mit seiner «DiWertatio <1e inÄusxioÄto IlamolvNKium vxitü," die
1671 zu Wittenberg herauskam.

Andere Gelehrte freilich, wie der Gröninger Professor Martin Schoocktus


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[0504] Erbauung des genannten Thores. Zieht man von diesem 272 Jahre ab, so verlegen die Verse den Auszug der hamelnschen Kinder in das Jahr 1250. Am Koppelberge, der ursprünglich ein Kapellen- oder Calvarienberg ge¬ wesen sein wird, standen in alter Zeit zwei Steine in Kreuzesform, welche die Stelle angeben sollten, an welcher der Rattenfänger mit den Entführten in die Erde gegangen war. Ferner konnte man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts an einem Fenster der Marktkirche eine Darstellung der in Rede stehenden Begebenheit in Glasmalerei sehen, ein Bild, welches eine ältere Verewigung des Ereig¬ nisses ersetzte, und welches den frommen Pastor Letzner in seiner Chronik der Stadt Hildesheim, zu folgender wohlgemeinter Ermahnung veranlaßte: „O ihr lieben christlichen Eltern, schauet und sehet dieses Gemälde nicht allein schlecht und bloß an, wie eine Kuh oder ein anderes unvernünftiges Thier ein altes Thor ansteht, sondern betrachtet es christlich in eurem Herzen, und lasset eure Kinder nicht in der Irre gehen, auf daß der Teufel ihrer nicht mächtig werde, welches denn gar bald und leicht geschehen kann, sonder¬ lich weil ihnen der Satanas doch so aussätzig und feind ist. Darum haltet sie zum Morgen- und Abendgebete; das wird christlichen und gottseliger Men¬ schen nicht gereuen." An einem Hause auf der Papenstraße, das um die Mitte des letztver- flossnen Jahrhunderts neben dem Wirthshause zum braunen Hirsche stand, war die Rattenfängergeschichte in Holz geschnitzt zu sehen. An zwei andern Häusern, dem Kastendieck'schen und dem Neuen, befanden sich 1826 Inschriften, die sich auf sie bezogen. Endlich soll der Name einer Gasse in Hameln. welche die Bunge- lose heißt, und wo an einem Eckhause noch jetzt eine auf den Rattenfänger bezügliche Inschrift ist, von dem Auszuge der Kinder herrühren, indem die betrübte Bürgerschaft beschlossen hätte, zum Andenken an ihren Verlust hier nie wieder eine Bunge, d. h. eine Trommel zu rühren. In Stein gehauen, aus Glas gemalt, in Holz geschnitzt, durch mehrfache Inschriften verewigt, im Namen einer alten Straße enthalten, muß unsere Geschichte früher ungefähr so, wie ich sie erzählte, allgemein geglaubt wor¬ den sein. Seit wann, ist ungewiß. Sicher ist nur, daß auch Gelehrte des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts sie in dieser Gestalt für wahr ge¬ halten haben. Sprenger führt deren eine lange Reihe an. Ich nenne davon nur Heinrich Bunting mit seiner 1548 erschienenen Braunschweigischen Chronik, Samuel Erichius mit seinem 1665 gedruckten „LxvÄus II-imvlLnsiiZ" und Kirchmaier mit seiner «DiWertatio <1e inÄusxioÄto IlamolvNKium vxitü," die 1671 zu Wittenberg herauskam. Andere Gelehrte freilich, wie der Gröninger Professor Martin Schoocktus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/504>, abgerufen am 06.02.2025.