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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Haupt auf das Bibliographische, auf Richtigstellung des Textes, auf das
Sprachliche, Styl, Metrum, Reim u. tgi., auf die Erläuterung dunkler
Stellen aus persönlichen und localen Bezügen, dann auf die literarischen An¬
regungen, aus denen eine dichterische Produktion hervorgegangen, auf bio¬
graphische Notizen, Mittheilungen aus Tagebüchern, Briefwechseln u. f. w.,
insoweit sie Auskunft über die Entstehung eines Werkes, wie für dessen
Auslegung, Unterlage für bestimmte Anspielungen auf Personen oder Ver¬
hältnisse geben, kurz, sie behandelt einen Goethe oder Schiller ohngefähr ebenso
wie die klassische Philologie einen Virgil oder Homer, die germanistische
einen Otfried oder einen Wolfram von Eschenbach. Wir verdanken dieser
philologischen Auffassungsweise eine Menge schätzbarer Beiträge zur näheren
Kenntniß unsrer großen deutschen Dichter; unsre so unendlich reichhaltige
Goethe-Literatur ruht fast ganz auf philologischer Grundlage. Als ein Typus
dieser Methode kann unter den literarhistorischen Schriftstellern der Gegenwart
Düntzer, der Goetheforscher x"r eK"/^, gelten. Die schriftstellerische Form
derselben ist vorzugsweise die monographische Sammlung und Herausgabe von
Briefwechseln, von Tagebüchern, Schilderung einzelner Gestalten aus den
Schriften oder aus den lebendigen Umgebungen eines Dichters, wie Goethe's
Freunde, Frauenbilder aus Goethe's Werken u. f. w., ferner revidirte Aus¬
gaben von Dichtwerken und Commentare dazu. Zu Gesammtschilderungen
eines ganzen Dichters, vollends einer ganzen Literaturperiode bringt es die
philologische Methode selten, weil sie eben zu viel mit dem Einzelnen zu thun
und das Einzelne für sie einen vorwiegenden Werth hat.

Der andern BeHandlungsweise der kulturhistorischen ist es dagegen
immer um den Dichter in seiner Totalität, und wiederum nicht um den
einzelnen Dichter allein als ein Ganzes, Abgeschlossenes, sondern um ihn als
Glied eines größern Ganzen, als den Ausfluß und Ausdruck einer ganzen
Periode geistigen Lebens, einer Zeit und einer Nation zu thun. Sie ver¬
schmäht oder vernachlässigt in keiner Weise die philologische Erörterung und
Feststellung des Einzelnen; aber dieselbe ist ihr immer nur Mittel, niemals
Zweck, und muß sich daher unter ihren Händen allezeit dem Zweck, der To¬
talerkenntniß des Dichters, unterordnen; sie betrachtet den philologisch-
kritischen Apparat gleichsam nur als das Baugerüst, welches dazu dient, das
Gebäude aufzuführen, aber zurücktreten muß vor dem fertigen Gebäude. Da¬
rben legt sie einen Hauptaccent auf das Werden und Wachsen eines Dichters
und seiner Schöpfungen aus der Totalität des Zeit- und Volksgeistes heraus,
s° wie auf den Einfluß, welchen ein Dichter und ein Dichtwerk auf diesen
Zeit- und Volksgeisi rückwirkend ausgeübt. Nicht nach bloß äußerlichen,
abstracten Kategorien; ob ein Dichter moralisch bessernd gewirkt habe, oder
nicht, ob kirchlich oder unkirchlich; ob Goethe oder Schiller politischen oder


Haupt auf das Bibliographische, auf Richtigstellung des Textes, auf das
Sprachliche, Styl, Metrum, Reim u. tgi., auf die Erläuterung dunkler
Stellen aus persönlichen und localen Bezügen, dann auf die literarischen An¬
regungen, aus denen eine dichterische Produktion hervorgegangen, auf bio¬
graphische Notizen, Mittheilungen aus Tagebüchern, Briefwechseln u. f. w.,
insoweit sie Auskunft über die Entstehung eines Werkes, wie für dessen
Auslegung, Unterlage für bestimmte Anspielungen auf Personen oder Ver¬
hältnisse geben, kurz, sie behandelt einen Goethe oder Schiller ohngefähr ebenso
wie die klassische Philologie einen Virgil oder Homer, die germanistische
einen Otfried oder einen Wolfram von Eschenbach. Wir verdanken dieser
philologischen Auffassungsweise eine Menge schätzbarer Beiträge zur näheren
Kenntniß unsrer großen deutschen Dichter; unsre so unendlich reichhaltige
Goethe-Literatur ruht fast ganz auf philologischer Grundlage. Als ein Typus
dieser Methode kann unter den literarhistorischen Schriftstellern der Gegenwart
Düntzer, der Goetheforscher x«r eK«/^, gelten. Die schriftstellerische Form
derselben ist vorzugsweise die monographische Sammlung und Herausgabe von
Briefwechseln, von Tagebüchern, Schilderung einzelner Gestalten aus den
Schriften oder aus den lebendigen Umgebungen eines Dichters, wie Goethe's
Freunde, Frauenbilder aus Goethe's Werken u. f. w., ferner revidirte Aus¬
gaben von Dichtwerken und Commentare dazu. Zu Gesammtschilderungen
eines ganzen Dichters, vollends einer ganzen Literaturperiode bringt es die
philologische Methode selten, weil sie eben zu viel mit dem Einzelnen zu thun
und das Einzelne für sie einen vorwiegenden Werth hat.

Der andern BeHandlungsweise der kulturhistorischen ist es dagegen
immer um den Dichter in seiner Totalität, und wiederum nicht um den
einzelnen Dichter allein als ein Ganzes, Abgeschlossenes, sondern um ihn als
Glied eines größern Ganzen, als den Ausfluß und Ausdruck einer ganzen
Periode geistigen Lebens, einer Zeit und einer Nation zu thun. Sie ver¬
schmäht oder vernachlässigt in keiner Weise die philologische Erörterung und
Feststellung des Einzelnen; aber dieselbe ist ihr immer nur Mittel, niemals
Zweck, und muß sich daher unter ihren Händen allezeit dem Zweck, der To¬
talerkenntniß des Dichters, unterordnen; sie betrachtet den philologisch-
kritischen Apparat gleichsam nur als das Baugerüst, welches dazu dient, das
Gebäude aufzuführen, aber zurücktreten muß vor dem fertigen Gebäude. Da¬
rben legt sie einen Hauptaccent auf das Werden und Wachsen eines Dichters
und seiner Schöpfungen aus der Totalität des Zeit- und Volksgeistes heraus,
s° wie auf den Einfluß, welchen ein Dichter und ein Dichtwerk auf diesen
Zeit- und Volksgeisi rückwirkend ausgeübt. Nicht nach bloß äußerlichen,
abstracten Kategorien; ob ein Dichter moralisch bessernd gewirkt habe, oder
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/399>, abgerufen am 06.02.2025.