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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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sich ihr zutraulich. Sie aber empfindet zunächst Widerwillen gegen die Kleine
und weist sie mit barschen Worten von sich weg. Später indeß sucht sie das
Kind, das inzwischen einsam in einem Dachkämmerchen gespielt hat, selbst
Wieder auf, um sich seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Dabei ist sie
genöthigt,' Carry auf den Schooß zu nehmen, die, nachdem sie sich so geschmiegt,
daß sie ihren Arm halb um Frau Tretherick geschlungen und ihre Wange
an den Busen gelegt hat, einschläft. Und jetzt beginnt sich die gute Seite
in der leichtsinnigen, selbstsüchtigen Frau zu regen. Einen Augenblick sitzt
^ noch unbewegt da.

"Dann begann, ob nun eine verborgene Sympathie in der Berührung
wirkte, oder ob es etwas Anderes war -- Gott wird es am Besten wissen --
plötzlich erwachter Gedanke sie zu durchzittern. Sie sing mit der Er¬
innerung an einen alten Schmerz an, den sie vergessen hatte, an einen alten
entsetzlichen Vorfall, den sie alle diese Jahre hindurch entschlossen aus ihrem
Gedächtniß verbannt hatte. Sie rief sich Tage der Krankheit und des Ver-
i^gens zurück, Tage, wo die Wolke der Furcht sie überschattet hatte. Tage
der Vorbereitung auf etwas, das verhüllt werden mußte -- das wirklich unter
Todesangst und Furcht verhütet wurde. Sie dachte an ein Leben, das hätte
s^n können -- sie wagte nicht zu sagen, das gewesen war -- und fragte
^es, wie es gewesen sein würde. Es war sechs Jahre her -- wenn es gelebt
hätte, würde es jetzt so alt wie Carry gewesen sein. Die Arme, die locker
^ das schlafende Kind geschlungen waren, begannen zu zittern, und die
^Mschlingung wurde inniger. Und nun kam der tiefe mächtige Antrieb, und
^ib schluchzend, halb seufzend streckte sie ihre Arme und zog den Körper des
sAcifenden Kindes dicht, dicht an ihre Brust, dichter und immer dichter und
^ser, als ob sie ihn in dem Grabe verbergen wollte, das dort vor Jahren
^graben worden. Und der Sturm, der sie geschüttelt, ging vorüber, und
arm -- ach! -- kam der Regen. Ein paar Tropfen fielen auf Carry's
°ekelt, und sie bewegre sich verdrießlich in ihrem Schlafe. Aber die Frau be¬
rechtigte sie wieder -- es war jetzt so leicht -- und sie saßen da so ruhig,
^ sie wie einverleibt hätten scheinen können in das einsame, schweigsame
<^aus mit seinen langsam hinschwindenden Sonnenstrahlen und der überall
" ihm herrschenden Verlassenheit und Verödung -- aber es war eine Ver-
"ssenheit, die jetzt nichts von Alter, Verfall oder Verzweiflung mehr an
"es hatte."

Durch diesen Vorfall ist Carry der Frau für alle Zeit ans Herz ge-
Men. Sie entführt sie und flieht Nach Sacramento und San Francisco.
^ lebt für sie, sorgt für sie, läßt sie auch, als sie in Noth gerathen, nicht
^ sich, heirathet um ihretwillen, als Tretherick am Säuferwahnsinn gestor-
^ den Obersten Starbottle und ist außer sich, als sie das Kind nun doch'


enzlwtcn II. 1875. 44Gr

sich ihr zutraulich. Sie aber empfindet zunächst Widerwillen gegen die Kleine
und weist sie mit barschen Worten von sich weg. Später indeß sucht sie das
Kind, das inzwischen einsam in einem Dachkämmerchen gespielt hat, selbst
Wieder auf, um sich seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Dabei ist sie
genöthigt,' Carry auf den Schooß zu nehmen, die, nachdem sie sich so geschmiegt,
daß sie ihren Arm halb um Frau Tretherick geschlungen und ihre Wange
an den Busen gelegt hat, einschläft. Und jetzt beginnt sich die gute Seite
in der leichtsinnigen, selbstsüchtigen Frau zu regen. Einen Augenblick sitzt
^ noch unbewegt da.

„Dann begann, ob nun eine verborgene Sympathie in der Berührung
wirkte, oder ob es etwas Anderes war — Gott wird es am Besten wissen —
plötzlich erwachter Gedanke sie zu durchzittern. Sie sing mit der Er¬
innerung an einen alten Schmerz an, den sie vergessen hatte, an einen alten
entsetzlichen Vorfall, den sie alle diese Jahre hindurch entschlossen aus ihrem
Gedächtniß verbannt hatte. Sie rief sich Tage der Krankheit und des Ver-
i^gens zurück, Tage, wo die Wolke der Furcht sie überschattet hatte. Tage
der Vorbereitung auf etwas, das verhüllt werden mußte — das wirklich unter
Todesangst und Furcht verhütet wurde. Sie dachte an ein Leben, das hätte
s^n können — sie wagte nicht zu sagen, das gewesen war — und fragte
^es, wie es gewesen sein würde. Es war sechs Jahre her — wenn es gelebt
hätte, würde es jetzt so alt wie Carry gewesen sein. Die Arme, die locker
^ das schlafende Kind geschlungen waren, begannen zu zittern, und die
^Mschlingung wurde inniger. Und nun kam der tiefe mächtige Antrieb, und
^ib schluchzend, halb seufzend streckte sie ihre Arme und zog den Körper des
sAcifenden Kindes dicht, dicht an ihre Brust, dichter und immer dichter und
^ser, als ob sie ihn in dem Grabe verbergen wollte, das dort vor Jahren
^graben worden. Und der Sturm, der sie geschüttelt, ging vorüber, und
arm — ach! — kam der Regen. Ein paar Tropfen fielen auf Carry's
°ekelt, und sie bewegre sich verdrießlich in ihrem Schlafe. Aber die Frau be¬
rechtigte sie wieder — es war jetzt so leicht — und sie saßen da so ruhig,
^ sie wie einverleibt hätten scheinen können in das einsame, schweigsame
<^aus mit seinen langsam hinschwindenden Sonnenstrahlen und der überall
" ihm herrschenden Verlassenheit und Verödung — aber es war eine Ver-
"ssenheit, die jetzt nichts von Alter, Verfall oder Verzweiflung mehr an
"es hatte."

Durch diesen Vorfall ist Carry der Frau für alle Zeit ans Herz ge-
Men. Sie entführt sie und flieht Nach Sacramento und San Francisco.
^ lebt für sie, sorgt für sie, läßt sie auch, als sie in Noth gerathen, nicht
^ sich, heirathet um ihretwillen, als Tretherick am Säuferwahnsinn gestor-
^ den Obersten Starbottle und ist außer sich, als sie das Kind nun doch'


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[0349] sich ihr zutraulich. Sie aber empfindet zunächst Widerwillen gegen die Kleine und weist sie mit barschen Worten von sich weg. Später indeß sucht sie das Kind, das inzwischen einsam in einem Dachkämmerchen gespielt hat, selbst Wieder auf, um sich seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Dabei ist sie genöthigt,' Carry auf den Schooß zu nehmen, die, nachdem sie sich so geschmiegt, daß sie ihren Arm halb um Frau Tretherick geschlungen und ihre Wange an den Busen gelegt hat, einschläft. Und jetzt beginnt sich die gute Seite in der leichtsinnigen, selbstsüchtigen Frau zu regen. Einen Augenblick sitzt ^ noch unbewegt da. „Dann begann, ob nun eine verborgene Sympathie in der Berührung wirkte, oder ob es etwas Anderes war — Gott wird es am Besten wissen — plötzlich erwachter Gedanke sie zu durchzittern. Sie sing mit der Er¬ innerung an einen alten Schmerz an, den sie vergessen hatte, an einen alten entsetzlichen Vorfall, den sie alle diese Jahre hindurch entschlossen aus ihrem Gedächtniß verbannt hatte. Sie rief sich Tage der Krankheit und des Ver- i^gens zurück, Tage, wo die Wolke der Furcht sie überschattet hatte. Tage der Vorbereitung auf etwas, das verhüllt werden mußte — das wirklich unter Todesangst und Furcht verhütet wurde. Sie dachte an ein Leben, das hätte s^n können — sie wagte nicht zu sagen, das gewesen war — und fragte ^es, wie es gewesen sein würde. Es war sechs Jahre her — wenn es gelebt hätte, würde es jetzt so alt wie Carry gewesen sein. Die Arme, die locker ^ das schlafende Kind geschlungen waren, begannen zu zittern, und die ^Mschlingung wurde inniger. Und nun kam der tiefe mächtige Antrieb, und ^ib schluchzend, halb seufzend streckte sie ihre Arme und zog den Körper des sAcifenden Kindes dicht, dicht an ihre Brust, dichter und immer dichter und ^ser, als ob sie ihn in dem Grabe verbergen wollte, das dort vor Jahren ^graben worden. Und der Sturm, der sie geschüttelt, ging vorüber, und arm — ach! — kam der Regen. Ein paar Tropfen fielen auf Carry's °ekelt, und sie bewegre sich verdrießlich in ihrem Schlafe. Aber die Frau be¬ rechtigte sie wieder — es war jetzt so leicht — und sie saßen da so ruhig, ^ sie wie einverleibt hätten scheinen können in das einsame, schweigsame <^aus mit seinen langsam hinschwindenden Sonnenstrahlen und der überall " ihm herrschenden Verlassenheit und Verödung — aber es war eine Ver- "ssenheit, die jetzt nichts von Alter, Verfall oder Verzweiflung mehr an "es hatte." Durch diesen Vorfall ist Carry der Frau für alle Zeit ans Herz ge- Men. Sie entführt sie und flieht Nach Sacramento und San Francisco. ^ lebt für sie, sorgt für sie, läßt sie auch, als sie in Noth gerathen, nicht ^ sich, heirathet um ihretwillen, als Tretherick am Säuferwahnsinn gestor- ^ den Obersten Starbottle und ist außer sich, als sie das Kind nun doch' enzlwtcn II. 1875. 44Gr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/349>, abgerufen am 06.02.2025.