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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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aV. Sie wechselt insgeheim Briefe mit Oakhurst, sie weiß ihren Mann zu
bestimmen, sie auf einige Zeit nach Francisco reisen zu lassen, indem sie vor¬
giebt, Hamilton, der ihr nachstelle, werde dann auch abreisen, während sie
doch nur die Absicht verfolgt, dort mit Oakhurst ohne Aufsehen zusammen
sein zu können. Hamilton jedoch geht nicht. Aber sein Bleiben führt nur
dazu, daß Frau Decker ihrem Ziele immer näher kommt, indem sie ihren
Mann unter dem Vorgeben, Hamilton werde dann wegbleiben, überredet
Oakhurst ein Zimmer in ihrem Hause einzuräumen, was trotz des Übeln
Rufes des Spielers nicht auffällt; denn Frau Decker versteht den Schein zu
wahren, sie ist äußerlich einfach und vor Allem fromm, nie gestattet sie sich
in der Oeffentlichkeit eine Unziemlichkeit, ihr Name ist über jeden Verdacht
erhaben. Oakhurst's Liebe zu ihr wirkt sogar auf ihn veredelnd, er hält nicht
mehr Bank, er verkauft seine Rennpferde, er meidet das Wirthshaus, liest
viel, macht lange Spaziergänge, vernachlässigt sich in der Kleidung, "um wie
achtbare Leute auszusehen," und -- besucht die Kirche. Da macht der
Zufall, oder die poetische Gerechtigkeit, diesem Entwicklungsgange ein plötzliches
Ende. Hamilton und Oakhurst sind bis dahin Freunde gewesen, jetzt ent¬
zweien sie sich, indem jener diesen über das Wesen der Geliebten beider reinen
Wein einzuschenken im Begriff ist; es kommt zu einer Scene und infolge
zu einem Duell, in welchem Oakhurst verwundet, Hamilton aber erschossen
wird. Bevor er stirbt, giebt er dem Freunde, der ihn getödtet. in einigen
Briefen überzeugende Beweise von der Falschheit derjenigen. der er sich ganz
hingegeben. Verzweifelnd, rasend eilt Oakhurst nach ihrer Wohnung, wo er
sie auf dem Sopha beim Lesen eines Romans überrascht,

"Sein Gesicht war verstört, sein Rockärmel hing lose über den einen
Arm, der verbunden und blutig war. Dem ungeachtet versagte ihr die
Stimme nicht, als sie sich ihm zuwendete. "Was ist vorgekommen Jack?
Warum bist du hier?" -- "Um dir die Briefe deines Liebhabers wieder zu
bringen -- dich umzubringen und dann mich selber zu todten", sagte er mit
einer Stimme so dumpf, daß sie fast unhörbar war. -- Unter den vielen
Tugenden dieses bewundernswürdigen Weibes war unbesiegbarer Muth.
Sie fiel nicht in Ohnmacht, sie schrie nicht auf. Sie setzte sich ruhig wieder
hin, faltete ihre Hände über ihrem Schooße und sagte gelassen: "Und warum
solltest du das nicht thun?" Hätte sie sich vor ihm gewunden, hätte sie irgend
welche Furcht oder Zerknirschung merken lassen, hätte sie den Versuch gemacht,
zu erklären oder zu entschuldigen, so würde Herr Oakhurst dies als einen
Beweis ihrer Schuld angesehen haben. Aber es giebt keine Eigenschaft, die
der Muth so schnell anerkennt, als den Muth; es giebt keinen Gemüthszu¬
stand, vor dem ein verzweifelter Entschluß sich beugt, als verzweifelte Ent¬
schlossenheit; und die Gabe zu analysiren, war bei Herrn Oakhurst nicht so

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aV. Sie wechselt insgeheim Briefe mit Oakhurst, sie weiß ihren Mann zu
bestimmen, sie auf einige Zeit nach Francisco reisen zu lassen, indem sie vor¬
giebt, Hamilton, der ihr nachstelle, werde dann auch abreisen, während sie
doch nur die Absicht verfolgt, dort mit Oakhurst ohne Aufsehen zusammen
sein zu können. Hamilton jedoch geht nicht. Aber sein Bleiben führt nur
dazu, daß Frau Decker ihrem Ziele immer näher kommt, indem sie ihren
Mann unter dem Vorgeben, Hamilton werde dann wegbleiben, überredet
Oakhurst ein Zimmer in ihrem Hause einzuräumen, was trotz des Übeln
Rufes des Spielers nicht auffällt; denn Frau Decker versteht den Schein zu
wahren, sie ist äußerlich einfach und vor Allem fromm, nie gestattet sie sich
in der Oeffentlichkeit eine Unziemlichkeit, ihr Name ist über jeden Verdacht
erhaben. Oakhurst's Liebe zu ihr wirkt sogar auf ihn veredelnd, er hält nicht
mehr Bank, er verkauft seine Rennpferde, er meidet das Wirthshaus, liest
viel, macht lange Spaziergänge, vernachlässigt sich in der Kleidung, „um wie
achtbare Leute auszusehen," und — besucht die Kirche. Da macht der
Zufall, oder die poetische Gerechtigkeit, diesem Entwicklungsgange ein plötzliches
Ende. Hamilton und Oakhurst sind bis dahin Freunde gewesen, jetzt ent¬
zweien sie sich, indem jener diesen über das Wesen der Geliebten beider reinen
Wein einzuschenken im Begriff ist; es kommt zu einer Scene und infolge
zu einem Duell, in welchem Oakhurst verwundet, Hamilton aber erschossen
wird. Bevor er stirbt, giebt er dem Freunde, der ihn getödtet. in einigen
Briefen überzeugende Beweise von der Falschheit derjenigen. der er sich ganz
hingegeben. Verzweifelnd, rasend eilt Oakhurst nach ihrer Wohnung, wo er
sie auf dem Sopha beim Lesen eines Romans überrascht,

„Sein Gesicht war verstört, sein Rockärmel hing lose über den einen
Arm, der verbunden und blutig war. Dem ungeachtet versagte ihr die
Stimme nicht, als sie sich ihm zuwendete. „Was ist vorgekommen Jack?
Warum bist du hier?" — „Um dir die Briefe deines Liebhabers wieder zu
bringen — dich umzubringen und dann mich selber zu todten", sagte er mit
einer Stimme so dumpf, daß sie fast unhörbar war. — Unter den vielen
Tugenden dieses bewundernswürdigen Weibes war unbesiegbarer Muth.
Sie fiel nicht in Ohnmacht, sie schrie nicht auf. Sie setzte sich ruhig wieder
hin, faltete ihre Hände über ihrem Schooße und sagte gelassen: „Und warum
solltest du das nicht thun?" Hätte sie sich vor ihm gewunden, hätte sie irgend
welche Furcht oder Zerknirschung merken lassen, hätte sie den Versuch gemacht,
zu erklären oder zu entschuldigen, so würde Herr Oakhurst dies als einen
Beweis ihrer Schuld angesehen haben. Aber es giebt keine Eigenschaft, die
der Muth so schnell anerkennt, als den Muth; es giebt keinen Gemüthszu¬
stand, vor dem ein verzweifelter Entschluß sich beugt, als verzweifelte Ent¬
schlossenheit; und die Gabe zu analysiren, war bei Herrn Oakhurst nicht so

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[0310] aV. Sie wechselt insgeheim Briefe mit Oakhurst, sie weiß ihren Mann zu bestimmen, sie auf einige Zeit nach Francisco reisen zu lassen, indem sie vor¬ giebt, Hamilton, der ihr nachstelle, werde dann auch abreisen, während sie doch nur die Absicht verfolgt, dort mit Oakhurst ohne Aufsehen zusammen sein zu können. Hamilton jedoch geht nicht. Aber sein Bleiben führt nur dazu, daß Frau Decker ihrem Ziele immer näher kommt, indem sie ihren Mann unter dem Vorgeben, Hamilton werde dann wegbleiben, überredet Oakhurst ein Zimmer in ihrem Hause einzuräumen, was trotz des Übeln Rufes des Spielers nicht auffällt; denn Frau Decker versteht den Schein zu wahren, sie ist äußerlich einfach und vor Allem fromm, nie gestattet sie sich in der Oeffentlichkeit eine Unziemlichkeit, ihr Name ist über jeden Verdacht erhaben. Oakhurst's Liebe zu ihr wirkt sogar auf ihn veredelnd, er hält nicht mehr Bank, er verkauft seine Rennpferde, er meidet das Wirthshaus, liest viel, macht lange Spaziergänge, vernachlässigt sich in der Kleidung, „um wie achtbare Leute auszusehen," und — besucht die Kirche. Da macht der Zufall, oder die poetische Gerechtigkeit, diesem Entwicklungsgange ein plötzliches Ende. Hamilton und Oakhurst sind bis dahin Freunde gewesen, jetzt ent¬ zweien sie sich, indem jener diesen über das Wesen der Geliebten beider reinen Wein einzuschenken im Begriff ist; es kommt zu einer Scene und infolge zu einem Duell, in welchem Oakhurst verwundet, Hamilton aber erschossen wird. Bevor er stirbt, giebt er dem Freunde, der ihn getödtet. in einigen Briefen überzeugende Beweise von der Falschheit derjenigen. der er sich ganz hingegeben. Verzweifelnd, rasend eilt Oakhurst nach ihrer Wohnung, wo er sie auf dem Sopha beim Lesen eines Romans überrascht, „Sein Gesicht war verstört, sein Rockärmel hing lose über den einen Arm, der verbunden und blutig war. Dem ungeachtet versagte ihr die Stimme nicht, als sie sich ihm zuwendete. „Was ist vorgekommen Jack? Warum bist du hier?" — „Um dir die Briefe deines Liebhabers wieder zu bringen — dich umzubringen und dann mich selber zu todten", sagte er mit einer Stimme so dumpf, daß sie fast unhörbar war. — Unter den vielen Tugenden dieses bewundernswürdigen Weibes war unbesiegbarer Muth. Sie fiel nicht in Ohnmacht, sie schrie nicht auf. Sie setzte sich ruhig wieder hin, faltete ihre Hände über ihrem Schooße und sagte gelassen: „Und warum solltest du das nicht thun?" Hätte sie sich vor ihm gewunden, hätte sie irgend welche Furcht oder Zerknirschung merken lassen, hätte sie den Versuch gemacht, zu erklären oder zu entschuldigen, so würde Herr Oakhurst dies als einen Beweis ihrer Schuld angesehen haben. Aber es giebt keine Eigenschaft, die der Muth so schnell anerkennt, als den Muth; es giebt keinen Gemüthszu¬ stand, vor dem ein verzweifelter Entschluß sich beugt, als verzweifelte Ent¬ schlossenheit; und die Gabe zu analysiren, war bei Herrn Oakhurst nicht so W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/310>, abgerufen am 05.02.2025.