Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.sachkundige und zugleich phantasiereiche Schilderer eröffnet, erhöhen nicht bloß sachkundige und zugleich phantasiereiche Schilderer eröffnet, erhöhen nicht bloß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0295" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133583"/> <p xml:id="ID_929" prev="#ID_928" next="#ID_930"> sachkundige und zugleich phantasiereiche Schilderer eröffnet, erhöhen nicht bloß<lb/> den dichterischen, sondern auch den culturhistorischen Werth des Gemäldes.<lb/> Auch Horaz giebt uns in seinen Satiren und Episteln einen reichen Schatz<lb/> gesellschaftlicher Beobachtungen, aber er stellt sich dem geschilderten Leben<lb/> Prüfend, oft abweisend, gegenüber; er bezieht den ganzen Kreis seiner<lb/> Beobachtungen auf sich, als den Mittelpunkt, insofern hat seine Darstellung<lb/> ein subjektives Gepräge, Ovid dagegen bringt den Eindruck hervor, als<lb/> schildere er aus eigener Erfahrung, als sachkundiger Lebemann jenes ganze<lb/> Getriebe; er ist objectiver, weil er mit keinem Maaßstab der prüfenden Philosophie<lb/> mißt, sondern naiv die Zustände nimmt, wie sie sind. Ovid hat hier das<lb/> rhetorische Farbenspiel zum Vortheil des ganzen gedämpft, er konnte seiner<lb/> Laune, seinem Witz und seiner Einbildungskraft so behaglich sich hingeben,<lb/> und fühlte sich so ganz und so wohl in seinem Element, daß er jenes Zu¬<lb/> satzes weniger bedürfte. Er stand in der Reife seiner Kraft und schwelgte in<lb/> feinem Formgefühl. Vollendetere Verse kennt die römische Sprache nicht. Vom<lb/> streng rhythmischen Wellenschlag dieser Verspaare, welche durch allmältges<lb/> Aufsteigen im ersten, durch Senkung im zweiten den Gedanken gleichsam<lb/> schaukeln, von dem sinnlichen Wohlklang, der durch die richtige Mischung der<lb/> Laute und Lautcomplexe erzeugt wird, von der Kunst der Wortstellung und<lb/> Worteinschränkung, wodurch die beiden Hälften eines Verses sich wieder zur<lb/> Einheit zusammenfügen — von diesen und andern Vorzügen, die doch nur<lb/> den rhythmischen, also bloß den einen Theil des Formellen betreffen. hat nur<lb/> der das volle Gefühl, der sich durch lange Beobachtung und Vergleichung in<lb/> sie hineingelebt hat. — Sittlichen Werth haben diese Gedichte natürlich keinen,<lb/> der erzürnte August fand im Gegentheil, sie seien sehr unsittlich, freilich<lb/> gelangte er etwas spät zu dieser Ueberzeugung, denn erst ungefähr ein<lb/> Dezennium nach ihrem Erscheinen, i. I. 761 folgte ihnen die Strafe^— die<lb/> Verbannung nach Tomi. Der Schlag traf den unglücklichen Dichter plötzlich und<lb/> Unerwartet (in seinem funfzigsten Lebensjahre) und riß ihn aus einem trau¬<lb/> lichen, ja sogar innigen Familienleben heraus. Er war zum dritten Mal, und<lb/> Mar glücklich an eine Frau aus einer der ersten Familien Roms, verheirathet;<lb/> die beiden ersten Ehen waren, die erste durch Schuld einer ungeeigneten Frau,<lb/> die zweite durch uns unbekannte Umstände, gelöst worden; er hatte Töchter<lb/> und Enkel, wenn auch im Augenblick seiner Abreise nicht in Rom anwesend;<lb/> Vater und Mutter waren, jener hochbetagt, gestorben, und der Dichter, voll<lb/> liebender Pietät, preist sie glücklich, daß ihr Todesloos ihnen den ungeheuren<lb/> Schmerz um ihren Verlornen Sohn ersparte. Und warum, fragt man mit<lb/> Necht, erst jetzt diese grausame Strafe für ein Verbrechen, welches keines<lb/> war? Was konnte den mächtigen Herrscher bewegen, die Schale seines<lb/> Zornes bloß über Ovid auszugießen, und ein Dutzend anderer Poeten, die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0295]
sachkundige und zugleich phantasiereiche Schilderer eröffnet, erhöhen nicht bloß
den dichterischen, sondern auch den culturhistorischen Werth des Gemäldes.
Auch Horaz giebt uns in seinen Satiren und Episteln einen reichen Schatz
gesellschaftlicher Beobachtungen, aber er stellt sich dem geschilderten Leben
Prüfend, oft abweisend, gegenüber; er bezieht den ganzen Kreis seiner
Beobachtungen auf sich, als den Mittelpunkt, insofern hat seine Darstellung
ein subjektives Gepräge, Ovid dagegen bringt den Eindruck hervor, als
schildere er aus eigener Erfahrung, als sachkundiger Lebemann jenes ganze
Getriebe; er ist objectiver, weil er mit keinem Maaßstab der prüfenden Philosophie
mißt, sondern naiv die Zustände nimmt, wie sie sind. Ovid hat hier das
rhetorische Farbenspiel zum Vortheil des ganzen gedämpft, er konnte seiner
Laune, seinem Witz und seiner Einbildungskraft so behaglich sich hingeben,
und fühlte sich so ganz und so wohl in seinem Element, daß er jenes Zu¬
satzes weniger bedürfte. Er stand in der Reife seiner Kraft und schwelgte in
feinem Formgefühl. Vollendetere Verse kennt die römische Sprache nicht. Vom
streng rhythmischen Wellenschlag dieser Verspaare, welche durch allmältges
Aufsteigen im ersten, durch Senkung im zweiten den Gedanken gleichsam
schaukeln, von dem sinnlichen Wohlklang, der durch die richtige Mischung der
Laute und Lautcomplexe erzeugt wird, von der Kunst der Wortstellung und
Worteinschränkung, wodurch die beiden Hälften eines Verses sich wieder zur
Einheit zusammenfügen — von diesen und andern Vorzügen, die doch nur
den rhythmischen, also bloß den einen Theil des Formellen betreffen. hat nur
der das volle Gefühl, der sich durch lange Beobachtung und Vergleichung in
sie hineingelebt hat. — Sittlichen Werth haben diese Gedichte natürlich keinen,
der erzürnte August fand im Gegentheil, sie seien sehr unsittlich, freilich
gelangte er etwas spät zu dieser Ueberzeugung, denn erst ungefähr ein
Dezennium nach ihrem Erscheinen, i. I. 761 folgte ihnen die Strafe^— die
Verbannung nach Tomi. Der Schlag traf den unglücklichen Dichter plötzlich und
Unerwartet (in seinem funfzigsten Lebensjahre) und riß ihn aus einem trau¬
lichen, ja sogar innigen Familienleben heraus. Er war zum dritten Mal, und
Mar glücklich an eine Frau aus einer der ersten Familien Roms, verheirathet;
die beiden ersten Ehen waren, die erste durch Schuld einer ungeeigneten Frau,
die zweite durch uns unbekannte Umstände, gelöst worden; er hatte Töchter
und Enkel, wenn auch im Augenblick seiner Abreise nicht in Rom anwesend;
Vater und Mutter waren, jener hochbetagt, gestorben, und der Dichter, voll
liebender Pietät, preist sie glücklich, daß ihr Todesloos ihnen den ungeheuren
Schmerz um ihren Verlornen Sohn ersparte. Und warum, fragt man mit
Necht, erst jetzt diese grausame Strafe für ein Verbrechen, welches keines
war? Was konnte den mächtigen Herrscher bewegen, die Schale seines
Zornes bloß über Ovid auszugießen, und ein Dutzend anderer Poeten, die
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