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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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In seiner Schrift über die "vatikanischen Decrete" wirft Gladstone die
Frage auf: welchen letzten Zweck die römische Curie bei ihrem sichtbaren Stre¬
ben, Europa in einen Krieg zu stürzen, verfolge; und er kommt zu der An¬
sicht, daß sie aus der allgemeinen Verwirrung den Kirchenstaat als Beute
davon zu tragen hoffe. Wenn die Jesuiten heute Italien das Bild der katho¬
lischen Liga vorhalten, so werden sie sich freilich hüten, als Bedingung der
Aussöhnung zwischen Italien und dem Papst die Rückgabe des Kirchenstaates
zu fordern. Im Gegentheil; es giebt geschichtliche Vorgänge, die man zu
Belegen für eine weitgehende Resignation der Curie benutzen kann. Soll ja
1870 Napoleon III. den Italienern als Preis der Allianz das Patrimonium
Petri bis auf den leoninischen Theil der Hauptstadt angetragen haben. Viel¬
leicht weist man nach, daß dieses Angebot der Curie nicht fremd war, oder
beruft sich darauf, daß schon im April 1871 der Papst vor dem Botschafter
Frankreichs erklärte: "Alles was ich wünsche, ist ein kleines Stück Land, wo
ich Herr sein kann. Wenn man mir anbieten würde, meine Staaten mir zu¬
rückzugeben, so würde ich es nicht annehmen." Freilich gehörte zu dem klei¬
nen Stück Land auch Rom; aber wenn die Italiener sich mit allgemeinen
Versprechungen begnügen wollen, warum sollte man ihnen nicht auch den
Verzicht auf Rom in Aussicht stellen? -- Der Papst hat die Gewalt, zu
binden und zu lösen. Ist Deutschland nur erst niedergeworfen, so kommt
man über Eide und Versprechungen schon hinweg. Angesichts des allge¬
meinen Verlangens der katholischen Welt, würde die Curie dann nicht um¬
hin können, die weltlichen Regierungen von ihrem Gelübde zu entbinden.

An der Einheit des mächtigen deutschen Reichs hängt die Einheit Ita¬
liens, Hätten die italienischen Minister die Klarheit und Energie Cavour's
geerbt, sie würden aus dieser einfachen Thatsache entschlossen die Folgerungen
ziehen. Sie würden nicht schwanken zwischen uns und dem Papst. Sie wür¬
den keinen Augenblick im Zweifel sein, daß Italien bei einem zweiten fran¬
zösischen Krieg sich weder bei Seite stellen noch gar die Intentionen vom
Frühjahr 1870 noch einmal aufnehmen dürfe. Man weiß übrigens in Deutsch¬
land, daß das italienische Volk patriotischer, stolzer denkt als seine Regierung.
Es hat nicht wie die Consorterie durch die Gewohnheit der Dienstbarkeit gegen
Frankreich den Unabhängigkeitssinn verloren. Setzten wir auf dieses gesunde
Volksgefühl, das im entscheidenden Momente zum Durchbruch kommen wird,
acht unsere Hoffnung, so würde die Haltung, welche die italienische Regierung
in unserm Kirchenkampf einnimmt, für dieselbe eine große Gefahr sein. Denn
nur solange Italien seine Interessen als solidarisch mit den unsrigen aner¬
kennt, können auch wir an dieser Solidarität festhalten. Wäre dies ein¬
mal nicht mehr der Fall, so entstände für uns die Frage: wel¬
ches Interesse haben wir daran, daß Rom und Civita Vecchia


In seiner Schrift über die „vatikanischen Decrete" wirft Gladstone die
Frage auf: welchen letzten Zweck die römische Curie bei ihrem sichtbaren Stre¬
ben, Europa in einen Krieg zu stürzen, verfolge; und er kommt zu der An¬
sicht, daß sie aus der allgemeinen Verwirrung den Kirchenstaat als Beute
davon zu tragen hoffe. Wenn die Jesuiten heute Italien das Bild der katho¬
lischen Liga vorhalten, so werden sie sich freilich hüten, als Bedingung der
Aussöhnung zwischen Italien und dem Papst die Rückgabe des Kirchenstaates
zu fordern. Im Gegentheil; es giebt geschichtliche Vorgänge, die man zu
Belegen für eine weitgehende Resignation der Curie benutzen kann. Soll ja
1870 Napoleon III. den Italienern als Preis der Allianz das Patrimonium
Petri bis auf den leoninischen Theil der Hauptstadt angetragen haben. Viel¬
leicht weist man nach, daß dieses Angebot der Curie nicht fremd war, oder
beruft sich darauf, daß schon im April 1871 der Papst vor dem Botschafter
Frankreichs erklärte: „Alles was ich wünsche, ist ein kleines Stück Land, wo
ich Herr sein kann. Wenn man mir anbieten würde, meine Staaten mir zu¬
rückzugeben, so würde ich es nicht annehmen." Freilich gehörte zu dem klei¬
nen Stück Land auch Rom; aber wenn die Italiener sich mit allgemeinen
Versprechungen begnügen wollen, warum sollte man ihnen nicht auch den
Verzicht auf Rom in Aussicht stellen? — Der Papst hat die Gewalt, zu
binden und zu lösen. Ist Deutschland nur erst niedergeworfen, so kommt
man über Eide und Versprechungen schon hinweg. Angesichts des allge¬
meinen Verlangens der katholischen Welt, würde die Curie dann nicht um¬
hin können, die weltlichen Regierungen von ihrem Gelübde zu entbinden.

An der Einheit des mächtigen deutschen Reichs hängt die Einheit Ita¬
liens, Hätten die italienischen Minister die Klarheit und Energie Cavour's
geerbt, sie würden aus dieser einfachen Thatsache entschlossen die Folgerungen
ziehen. Sie würden nicht schwanken zwischen uns und dem Papst. Sie wür¬
den keinen Augenblick im Zweifel sein, daß Italien bei einem zweiten fran¬
zösischen Krieg sich weder bei Seite stellen noch gar die Intentionen vom
Frühjahr 1870 noch einmal aufnehmen dürfe. Man weiß übrigens in Deutsch¬
land, daß das italienische Volk patriotischer, stolzer denkt als seine Regierung.
Es hat nicht wie die Consorterie durch die Gewohnheit der Dienstbarkeit gegen
Frankreich den Unabhängigkeitssinn verloren. Setzten wir auf dieses gesunde
Volksgefühl, das im entscheidenden Momente zum Durchbruch kommen wird,
acht unsere Hoffnung, so würde die Haltung, welche die italienische Regierung
in unserm Kirchenkampf einnimmt, für dieselbe eine große Gefahr sein. Denn
nur solange Italien seine Interessen als solidarisch mit den unsrigen aner¬
kennt, können auch wir an dieser Solidarität festhalten. Wäre dies ein¬
mal nicht mehr der Fall, so entstände für uns die Frage: wel¬
ches Interesse haben wir daran, daß Rom und Civita Vecchia


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[0182] In seiner Schrift über die „vatikanischen Decrete" wirft Gladstone die Frage auf: welchen letzten Zweck die römische Curie bei ihrem sichtbaren Stre¬ ben, Europa in einen Krieg zu stürzen, verfolge; und er kommt zu der An¬ sicht, daß sie aus der allgemeinen Verwirrung den Kirchenstaat als Beute davon zu tragen hoffe. Wenn die Jesuiten heute Italien das Bild der katho¬ lischen Liga vorhalten, so werden sie sich freilich hüten, als Bedingung der Aussöhnung zwischen Italien und dem Papst die Rückgabe des Kirchenstaates zu fordern. Im Gegentheil; es giebt geschichtliche Vorgänge, die man zu Belegen für eine weitgehende Resignation der Curie benutzen kann. Soll ja 1870 Napoleon III. den Italienern als Preis der Allianz das Patrimonium Petri bis auf den leoninischen Theil der Hauptstadt angetragen haben. Viel¬ leicht weist man nach, daß dieses Angebot der Curie nicht fremd war, oder beruft sich darauf, daß schon im April 1871 der Papst vor dem Botschafter Frankreichs erklärte: „Alles was ich wünsche, ist ein kleines Stück Land, wo ich Herr sein kann. Wenn man mir anbieten würde, meine Staaten mir zu¬ rückzugeben, so würde ich es nicht annehmen." Freilich gehörte zu dem klei¬ nen Stück Land auch Rom; aber wenn die Italiener sich mit allgemeinen Versprechungen begnügen wollen, warum sollte man ihnen nicht auch den Verzicht auf Rom in Aussicht stellen? — Der Papst hat die Gewalt, zu binden und zu lösen. Ist Deutschland nur erst niedergeworfen, so kommt man über Eide und Versprechungen schon hinweg. Angesichts des allge¬ meinen Verlangens der katholischen Welt, würde die Curie dann nicht um¬ hin können, die weltlichen Regierungen von ihrem Gelübde zu entbinden. An der Einheit des mächtigen deutschen Reichs hängt die Einheit Ita¬ liens, Hätten die italienischen Minister die Klarheit und Energie Cavour's geerbt, sie würden aus dieser einfachen Thatsache entschlossen die Folgerungen ziehen. Sie würden nicht schwanken zwischen uns und dem Papst. Sie wür¬ den keinen Augenblick im Zweifel sein, daß Italien bei einem zweiten fran¬ zösischen Krieg sich weder bei Seite stellen noch gar die Intentionen vom Frühjahr 1870 noch einmal aufnehmen dürfe. Man weiß übrigens in Deutsch¬ land, daß das italienische Volk patriotischer, stolzer denkt als seine Regierung. Es hat nicht wie die Consorterie durch die Gewohnheit der Dienstbarkeit gegen Frankreich den Unabhängigkeitssinn verloren. Setzten wir auf dieses gesunde Volksgefühl, das im entscheidenden Momente zum Durchbruch kommen wird, acht unsere Hoffnung, so würde die Haltung, welche die italienische Regierung in unserm Kirchenkampf einnimmt, für dieselbe eine große Gefahr sein. Denn nur solange Italien seine Interessen als solidarisch mit den unsrigen aner¬ kennt, können auch wir an dieser Solidarität festhalten. Wäre dies ein¬ mal nicht mehr der Fall, so entstände für uns die Frage: wel¬ ches Interesse haben wir daran, daß Rom und Civita Vecchia

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/182>, abgerufen am 29.06.2024.