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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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gen sich entwickeln, ihre Stimmungen gegen uns lauer werden; die Rückkehr
der Wärme haben wir dann nach unsern ersten siegreichen Schlachten zu er¬
warten. Jene Rüstungen aber sind in ein Stadium getreten, welches die all¬
gemeinste Aufmerksamkeit erregt. Es ist ein Unterschied zwischen militärischen
Reformen und zwischen Kriegsvorbereitungen. Jede Verbesserung des Heer¬
wesens bezweckt freilich auch eine größere Schlagfertigkeit für den Krieg, aber
wenn sie ein Maß innehält, welches dauernd von dem Volke getragen werden
kann, so ist die eifrigste Sorge für die Vervollkommnung der militärischen
Einrichtungen kein Grund zur Beschwerde für die Nachbarstaaten. Alle Mächte
Europas haben nach den Erfahrungen der beiden letzten Feldzüge ihre Ar¬
meen und deren Bewaffnung reformier. Die allgemeine Dienstpflicht ist nicht
nur in Frankreich, sondern auch in Rußland und Oesterreich eingeführt; für
die Infanterie sind weittragende Gewehre beschafft, die Geschütze und die
Kampfweise der Artillerie sind oder werden nach deutschem Muster allenthalben
umgestaltet. Die Unglücksfälle von 1870 deckten den Franzosen schwere Mi߬
stände auf, deren Beseitigung das selbstverständliche Recht jeder unabhängigen
Nation ist- Sie reorganisirten mit erstaunlicher Raschheit die zerrüttete, aus
der Gefangenschaft heimkehrende Armee. Sie knüpften ihre Reformen an den
Punkt an, wo Marschall Niet 1868 hatte stehen bleiben müssen. Die Feld¬
armee, über welche Napoleon III. beim Ausbruch des Krieges gebot, zählte
in erster und zweiter Linie nur 336,000 Mann. Dieses Stärkeverhältniß
entsprach weder der politischen Stellung des Landes noch der Wehrkraft der
Nachbarstaaten. Auch eine Negierung, die keinen Angriffskriegs im Auge
hatte, durfte daran denken, es zu ändern, die jährliche Recrutirung und die
Zahl der Reserven zu erhöhen. Das Gesetz vom 27. Juli 1872 verfolgte
dieses Ziel; es hob die Stellvertretung des Recruten durch den schon gedienten
Soldaten, die Befreiung der besitzenden Klassen auf, es führte die allgemeine
Wehrpflicht ein. Das Gesetz vom 24- Juli 1873 schuf im Interesse der ra¬
scheren Mobilmachung eine der deutschen ähnliche Organisation; es stellte die
höheren Verbände der Brigaden, Divisionen und Armeecorps bereits für den
Friedensstand her, gliederte das französische Territorium in Corpsbezirke, und
theilte die beurlaubten Reservisten dem Regiment zu, welches sich ihrem Wohn¬
ort jedesmal am nächsten befindet. Indeß schon in jenem ersten Gesetz, noch
mehr aber in seiner praktischen Durchführung lag ein Moment, welches von
Jahr zu Jahr mehr unsere ernste Beachtung forderte. Das Gesetz behielt
neben der neueingeführten allgemeinen Wehrpflicht den 9jährigen Dienst
(5 Jahr activ, 4 in der Reserve) in der Feldarmee bei, und legte mit rückwirken¬
der Kraft einem jeden Franzosen noch eine 11jährige Verpflichtung für die
Territorialarmee (Landwehr) auf. Durch die letztere Schöpfung wollte man
den Bedarf an Mannschaften für die Festungen, Städte und die innere Lar-


gen sich entwickeln, ihre Stimmungen gegen uns lauer werden; die Rückkehr
der Wärme haben wir dann nach unsern ersten siegreichen Schlachten zu er¬
warten. Jene Rüstungen aber sind in ein Stadium getreten, welches die all¬
gemeinste Aufmerksamkeit erregt. Es ist ein Unterschied zwischen militärischen
Reformen und zwischen Kriegsvorbereitungen. Jede Verbesserung des Heer¬
wesens bezweckt freilich auch eine größere Schlagfertigkeit für den Krieg, aber
wenn sie ein Maß innehält, welches dauernd von dem Volke getragen werden
kann, so ist die eifrigste Sorge für die Vervollkommnung der militärischen
Einrichtungen kein Grund zur Beschwerde für die Nachbarstaaten. Alle Mächte
Europas haben nach den Erfahrungen der beiden letzten Feldzüge ihre Ar¬
meen und deren Bewaffnung reformier. Die allgemeine Dienstpflicht ist nicht
nur in Frankreich, sondern auch in Rußland und Oesterreich eingeführt; für
die Infanterie sind weittragende Gewehre beschafft, die Geschütze und die
Kampfweise der Artillerie sind oder werden nach deutschem Muster allenthalben
umgestaltet. Die Unglücksfälle von 1870 deckten den Franzosen schwere Mi߬
stände auf, deren Beseitigung das selbstverständliche Recht jeder unabhängigen
Nation ist- Sie reorganisirten mit erstaunlicher Raschheit die zerrüttete, aus
der Gefangenschaft heimkehrende Armee. Sie knüpften ihre Reformen an den
Punkt an, wo Marschall Niet 1868 hatte stehen bleiben müssen. Die Feld¬
armee, über welche Napoleon III. beim Ausbruch des Krieges gebot, zählte
in erster und zweiter Linie nur 336,000 Mann. Dieses Stärkeverhältniß
entsprach weder der politischen Stellung des Landes noch der Wehrkraft der
Nachbarstaaten. Auch eine Negierung, die keinen Angriffskriegs im Auge
hatte, durfte daran denken, es zu ändern, die jährliche Recrutirung und die
Zahl der Reserven zu erhöhen. Das Gesetz vom 27. Juli 1872 verfolgte
dieses Ziel; es hob die Stellvertretung des Recruten durch den schon gedienten
Soldaten, die Befreiung der besitzenden Klassen auf, es führte die allgemeine
Wehrpflicht ein. Das Gesetz vom 24- Juli 1873 schuf im Interesse der ra¬
scheren Mobilmachung eine der deutschen ähnliche Organisation; es stellte die
höheren Verbände der Brigaden, Divisionen und Armeecorps bereits für den
Friedensstand her, gliederte das französische Territorium in Corpsbezirke, und
theilte die beurlaubten Reservisten dem Regiment zu, welches sich ihrem Wohn¬
ort jedesmal am nächsten befindet. Indeß schon in jenem ersten Gesetz, noch
mehr aber in seiner praktischen Durchführung lag ein Moment, welches von
Jahr zu Jahr mehr unsere ernste Beachtung forderte. Das Gesetz behielt
neben der neueingeführten allgemeinen Wehrpflicht den 9jährigen Dienst
(5 Jahr activ, 4 in der Reserve) in der Feldarmee bei, und legte mit rückwirken¬
der Kraft einem jeden Franzosen noch eine 11jährige Verpflichtung für die
Territorialarmee (Landwehr) auf. Durch die letztere Schöpfung wollte man
den Bedarf an Mannschaften für die Festungen, Städte und die innere Lar-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/175>, abgerufen am 23.07.2024.