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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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hypersthenische, sodaß wir noch heute von der dort angesammelten Ueberfülle
zehren und dadurch der ganz entgegengesetzten Krankheit vorbeugen, die uns
heutigen droht. Krankhaft ist im Grunde jede einseitige Bildungsweise; aber
die Geschichte der menschlichen Cultur bewegt sich durch lauter Einseitigkeiten
hindurch, von welchen die eine die andre ablöst, um zu immer höheren Ver¬
knüpfungen, zu immer neuen Versuchen, die Totalität zu erreichen, emporzu¬
führen. Unsre Zeit hat sich immer entschiedener zum reinen Gegenpol ge¬
staltet gegen jene Jugend des Jahrhunderts: der unbefangene Historiker wird
beide Zeiten als sich ablösende, entgegengesetzte Einseitigkeiten auffassen und
von dem noch übrigen letzten Viertheil des Jahrhunderts eine höhere Ver¬
knüpfung, eine versöhnende Verschmelzung des dort Entgegengesetzten erwarten.
Derselbe Historiker wird aus demselben Grunde sich hüten -- auch wenn ihm
alle eignen Sympathien für jene frühere Periode fehlten --, die jugend¬
strotzende Genialität dieser Periode als eine bloße Quelle der Verirrung. des
Wahns, der Schwärmerei zu beurtheilen, und sie lediglich an dem Maßstabe
zu messen, welchen die ihr diametral entgegengesetzte gegenwärtige Zeit an
die Hand giebt, die Zeit der nüchternen Kritik, der objectiven Beobachtung,
der besonnenen Scheidung, der praktischen Zweckmäßigkeit.

Schelling ist der Philosoph der deutschen Gen ialttäts Periode:
er ist es in so vollendeter, allseitiger Weise, daß seiner zu gedenken schon des¬
halb ein Fest ist, weil er diesen bestimmten deutschen Culturtypus zu solcher
reiner Anschauung gebracht hat. getragen von der erstaunlichsten Ausrüstung
mit geistiger Aneignung- und Schöpferkraft, in hohem, energischem Auf¬
schwünge der Seele zum Erhabensten und Würdigsten erfüllt mit tiefleiden¬
schaftlicher Empörung gegen alles Niedrige und Triviale, im Besitze einer
Darstellungskunst, welche die verborgensten Tiefen des heimischen Sprach¬
schatzes ausschöpft, der feinen und sinnigen Rede ebensosehr wie der gewaltigen
und hinreißenden mächtig ist, auch den abstraktesten Gedanken einer volks¬
tümlichen Sinnlichkeit nähert, ähnlich der Sprache der deutschen Mystiker
und des Goethe'schen Faust, und durch Rhythmus und Vocalwechsel halb un¬
willkürlich die den Gedanken begleitenden, tragenden und färbenden Empfin¬
dungen aus den innersten Seelentiefen hervor oft zu beinahe musikalischer Aus¬
wirkung bringt. Fürwahr, wer vor Allem die Schriften Schelling's aus seinen
mittleren Jahren, besonders die Rede über die bildende Kunst, das Fragment
"Die Weltalter", den unvollendeten Dialog "Clara", unbefangen nur in der
Absicht liest, sich so berühren zu lassen, wie diese Schriften den sich hingeben-
den Geist zu berühren angethan sind. wird schwer umhin können, zuzugestehen,
daß hier eine Luft weht, die nur auf den höchsten Höhen menschlichen Seelen-
adels bekannt ist. Und wer solchen Eindruck gewönne, bis dahin etwa nur
durch die landläufige Verspottung der Schelling'schen Naturphilosophie über


hypersthenische, sodaß wir noch heute von der dort angesammelten Ueberfülle
zehren und dadurch der ganz entgegengesetzten Krankheit vorbeugen, die uns
heutigen droht. Krankhaft ist im Grunde jede einseitige Bildungsweise; aber
die Geschichte der menschlichen Cultur bewegt sich durch lauter Einseitigkeiten
hindurch, von welchen die eine die andre ablöst, um zu immer höheren Ver¬
knüpfungen, zu immer neuen Versuchen, die Totalität zu erreichen, emporzu¬
führen. Unsre Zeit hat sich immer entschiedener zum reinen Gegenpol ge¬
staltet gegen jene Jugend des Jahrhunderts: der unbefangene Historiker wird
beide Zeiten als sich ablösende, entgegengesetzte Einseitigkeiten auffassen und
von dem noch übrigen letzten Viertheil des Jahrhunderts eine höhere Ver¬
knüpfung, eine versöhnende Verschmelzung des dort Entgegengesetzten erwarten.
Derselbe Historiker wird aus demselben Grunde sich hüten — auch wenn ihm
alle eignen Sympathien für jene frühere Periode fehlten —, die jugend¬
strotzende Genialität dieser Periode als eine bloße Quelle der Verirrung. des
Wahns, der Schwärmerei zu beurtheilen, und sie lediglich an dem Maßstabe
zu messen, welchen die ihr diametral entgegengesetzte gegenwärtige Zeit an
die Hand giebt, die Zeit der nüchternen Kritik, der objectiven Beobachtung,
der besonnenen Scheidung, der praktischen Zweckmäßigkeit.

Schelling ist der Philosoph der deutschen Gen ialttäts Periode:
er ist es in so vollendeter, allseitiger Weise, daß seiner zu gedenken schon des¬
halb ein Fest ist, weil er diesen bestimmten deutschen Culturtypus zu solcher
reiner Anschauung gebracht hat. getragen von der erstaunlichsten Ausrüstung
mit geistiger Aneignung- und Schöpferkraft, in hohem, energischem Auf¬
schwünge der Seele zum Erhabensten und Würdigsten erfüllt mit tiefleiden¬
schaftlicher Empörung gegen alles Niedrige und Triviale, im Besitze einer
Darstellungskunst, welche die verborgensten Tiefen des heimischen Sprach¬
schatzes ausschöpft, der feinen und sinnigen Rede ebensosehr wie der gewaltigen
und hinreißenden mächtig ist, auch den abstraktesten Gedanken einer volks¬
tümlichen Sinnlichkeit nähert, ähnlich der Sprache der deutschen Mystiker
und des Goethe'schen Faust, und durch Rhythmus und Vocalwechsel halb un¬
willkürlich die den Gedanken begleitenden, tragenden und färbenden Empfin¬
dungen aus den innersten Seelentiefen hervor oft zu beinahe musikalischer Aus¬
wirkung bringt. Fürwahr, wer vor Allem die Schriften Schelling's aus seinen
mittleren Jahren, besonders die Rede über die bildende Kunst, das Fragment
„Die Weltalter", den unvollendeten Dialog „Clara", unbefangen nur in der
Absicht liest, sich so berühren zu lassen, wie diese Schriften den sich hingeben-
den Geist zu berühren angethan sind. wird schwer umhin können, zuzugestehen,
daß hier eine Luft weht, die nur auf den höchsten Höhen menschlichen Seelen-
adels bekannt ist. Und wer solchen Eindruck gewönne, bis dahin etwa nur
durch die landläufige Verspottung der Schelling'schen Naturphilosophie über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/11>, abgerufen am 06.02.2025.