Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.allen bisher betrachteten sich entgegenstellt, und in welchem wir den eigent¬ "Unsre Jugend krankte am Begriffe der Genialität." So sagt ein allen bisher betrachteten sich entgegenstellt, und in welchem wir den eigent¬ „Unsre Jugend krankte am Begriffe der Genialität." So sagt ein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0010" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133298"/> <p xml:id="ID_18" prev="#ID_17"> allen bisher betrachteten sich entgegenstellt, und in welchem wir den eigent¬<lb/> lichen Herrn über die Geister unsrer Gegenwart und nächsten Zukunft werden<lb/> anerkennen müssen. Diesen Gegner können wir mit Namen belegen, welche<lb/> ihn aufs Ernsteste unsrer Hochachtung empfehlen, mit Tugendnamen edler<lb/> besonnener Männlichkeit: es ist der Standpunkt männlicher Enthaltung,<lb/> strenger Prüfung, emsigen Fleißes, selbstloser, treuer Hingebung an das Nächste,<lb/> das Erreichbare, wenn auch anscheinend Geringe. Wer wollte zweifeln, daß<lb/> die hiermit ausgedrückten Gesinnungen den wahrhaft modernen Charakter<lb/> der Wissenschaft ausmachen, und daß, von hier aus gesehen, ein Mann wie<lb/> Schelling als der Hauptrepräsentant einer tumultuarischen Jugendperiode, an<lb/> die wir nicht gern oder höchstens nur um der Warnung willen erinnern<lb/> mögen, erscheinen muß? Wer möchte die Gefahr verkennen, die von hier aus<lb/> unsrer Verehrung droht? Jene Gesinnungen haben ihren heutigen Ausdruck<lb/> in einer skeptischen oder kritischen Beschränkung auf die Welt der Er¬<lb/> scheinungen als Erscheinungen, und in der Ueberlassung alles Uebrigen an<lb/> den individuellen, außerwissenschaftlichen Glauben. Niemand erscheint von<lb/> hier aus mehr als Feind der wahren Wissenschaft und Einsicht, als wer<lb/> solches Glauben und Phantasiren und Dichten, um so verführerischer und<lb/> schädlicher, je schwungvoller, einmengen will in wissenschaftliches Forschen und<lb/> Darstellen. So wäre denn in der That keiner der großen Geister der ersten<lb/> Hälfte unsers Jahrhunderts so sehr für Gegenwart und Zukunft der Typus<lb/> des in der Wissenschaft zu Fliehenden, das abschreckende Beispiel pur oxcLllviieo,<lb/> als Schelling. Der Gelehrte von Heute fragt mich: was hat nun Schelling<lb/> eigentlich wissenschaftlich aufs Reine gebracht? — und ich bleibe stumm. Er<lb/> fragt weiter: sind Dir die unsäglichen Verwirrungen nicht bekannt, welche<lb/> ihm ihr Dasein verdanken, sowohl in der Natur- als in der Geschichtswissen¬<lb/> schaft, und welche die exacte Arbeit der nachfolgenden Jahrzehnte mit großem<lb/> Verlust an Mühe und Zeit nur ganz allmälich austilgen konnte, womit sie<lb/> jetzt endlich glücklich zu Stande sein dürfte, jetzt, wo wir von Dir veranlaßt<lb/> werden, huldigend zu diesem Verwüster aufzuschauen? — und ich gestehe be¬<lb/> schämt, daß ich eine ziemliche Reihe von Bänden der gesammelten Werke<lb/> Schelling's, und zwar sämmtliche detaillirende Hinübersührungen seiner leitenden<lb/> Gedanken in irgend ein empirisches Gebiet, als gegenwärtig fast völlig un¬<lb/> brauchbar bei Seite legen muß. Sollte der Nest, wie einst bei den sibyllini-<lb/> schen Büchern, nun zum Preise des frühern Ganzen emporsteigen?</p><lb/> <p xml:id="ID_19" next="#ID_20"> „Unsre Jugend krankte am Begriffe der Genialität." So sagt ein<lb/> bekannter politischer Schriftsteller unsrer Zeit. Es würde wohl in seinem<lb/> Sinne sein, dieses Wort auszudehnen auf die Jugend des Jahrhunderts, von<lb/> der nur noch ein blasser Schimmer seine eigne Jugend traf. Jedenfalls war<lb/> die Krankheit, von der hier die Rede ist. keine asthenische, vielmehr eine</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0010]
allen bisher betrachteten sich entgegenstellt, und in welchem wir den eigent¬
lichen Herrn über die Geister unsrer Gegenwart und nächsten Zukunft werden
anerkennen müssen. Diesen Gegner können wir mit Namen belegen, welche
ihn aufs Ernsteste unsrer Hochachtung empfehlen, mit Tugendnamen edler
besonnener Männlichkeit: es ist der Standpunkt männlicher Enthaltung,
strenger Prüfung, emsigen Fleißes, selbstloser, treuer Hingebung an das Nächste,
das Erreichbare, wenn auch anscheinend Geringe. Wer wollte zweifeln, daß
die hiermit ausgedrückten Gesinnungen den wahrhaft modernen Charakter
der Wissenschaft ausmachen, und daß, von hier aus gesehen, ein Mann wie
Schelling als der Hauptrepräsentant einer tumultuarischen Jugendperiode, an
die wir nicht gern oder höchstens nur um der Warnung willen erinnern
mögen, erscheinen muß? Wer möchte die Gefahr verkennen, die von hier aus
unsrer Verehrung droht? Jene Gesinnungen haben ihren heutigen Ausdruck
in einer skeptischen oder kritischen Beschränkung auf die Welt der Er¬
scheinungen als Erscheinungen, und in der Ueberlassung alles Uebrigen an
den individuellen, außerwissenschaftlichen Glauben. Niemand erscheint von
hier aus mehr als Feind der wahren Wissenschaft und Einsicht, als wer
solches Glauben und Phantasiren und Dichten, um so verführerischer und
schädlicher, je schwungvoller, einmengen will in wissenschaftliches Forschen und
Darstellen. So wäre denn in der That keiner der großen Geister der ersten
Hälfte unsers Jahrhunderts so sehr für Gegenwart und Zukunft der Typus
des in der Wissenschaft zu Fliehenden, das abschreckende Beispiel pur oxcLllviieo,
als Schelling. Der Gelehrte von Heute fragt mich: was hat nun Schelling
eigentlich wissenschaftlich aufs Reine gebracht? — und ich bleibe stumm. Er
fragt weiter: sind Dir die unsäglichen Verwirrungen nicht bekannt, welche
ihm ihr Dasein verdanken, sowohl in der Natur- als in der Geschichtswissen¬
schaft, und welche die exacte Arbeit der nachfolgenden Jahrzehnte mit großem
Verlust an Mühe und Zeit nur ganz allmälich austilgen konnte, womit sie
jetzt endlich glücklich zu Stande sein dürfte, jetzt, wo wir von Dir veranlaßt
werden, huldigend zu diesem Verwüster aufzuschauen? — und ich gestehe be¬
schämt, daß ich eine ziemliche Reihe von Bänden der gesammelten Werke
Schelling's, und zwar sämmtliche detaillirende Hinübersührungen seiner leitenden
Gedanken in irgend ein empirisches Gebiet, als gegenwärtig fast völlig un¬
brauchbar bei Seite legen muß. Sollte der Nest, wie einst bei den sibyllini-
schen Büchern, nun zum Preise des frühern Ganzen emporsteigen?
„Unsre Jugend krankte am Begriffe der Genialität." So sagt ein
bekannter politischer Schriftsteller unsrer Zeit. Es würde wohl in seinem
Sinne sein, dieses Wort auszudehnen auf die Jugend des Jahrhunderts, von
der nur noch ein blasser Schimmer seine eigne Jugend traf. Jedenfalls war
die Krankheit, von der hier die Rede ist. keine asthenische, vielmehr eine
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