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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Wahrheit und freier Lebenskraft weit übertroffen, sondern auch dem Besten,
was seitdem in diesem Gebiete geschaffen worden, als anerkanntes Vorbild
gedient habe. Daß auf preußischem Gebiet in einer freiheitlichen Entwicklungen
so wenig geneigten Zeit die Synodalverfassung sich gestalten konnte, hatte
besondre Ursachen, einmal die historische Basis im Herzogthum Cleve, sodann
die geschickte Vermittlung des Bischofs Roß, welcher die Annahme der neuen
Agende als Gegengabe in Aussicht stellte. So erhielt 183S Rheinland und
Westfalen die synodale Verfassung. Ihre Stärke ist die Organisation der
Gemeindevertretung, des Presbyteriums; die Unterscheidung zwischen Zuge¬
hörigkeit zur Parochie und zur Gemeinde, die Bedingtheit der letzteren von
kirchlichen Qualitäten schützt vor dem Mißbrauch der wichtigen Gewalten,
welche in die Hände der Gemeindevertretung gelegt sind, der freien Pfarr¬
wahl, der Selbstbesteuerung, der Kirchenzucht. Weniger befriedigend ist die
Organisation der kirchlichen Vertretung auf den höheren Stufen. Auf den
Provinzialsynoden besitzt das Laienelement nur ein Drittheil der Stimmen.

Die Befugnisse der Provinzialsynode auf der einen, des Consistoriums
und der Regierung, welche die kirchlichen Externa verwalten sollten, auf der an¬
dern Seite waren nicht klar gegen einander abgegrenzt. Die wichtigsten Be¬
schlüsse der Provinzialsynode mußten unausgeführt bleiben, die ursprünglich
zugestandne freie Pfarrwahl wurde auf einen engen Umfang beschränkt. Auch
Friedrich Wilhelm IV. dieser fromme, für die evangelische Kirche so warm
fühlende Fürst hat nur wenige Schritte gethan, welche ihre Verfassung för¬
derten. Er stand, wie bekannt, prinzipiell auf einem andern Standpunkte.
Die bischöfliche Verfassung der alten Kirche war sein Ideal. So konnte es
geschehen, daß Versammlungen von kirchlichen Notablen, deren Resultate
ignorirt wurden, ein Oberkirchenrath, der in der Luft schwebte, und Gemeindc-
kirchenräthe ohne Wurzeln und ohne Rechte in der Gemeinde die einzigen
Früchte waren, welche der evangelischen Kirche die Regierung eines Fürsten
trug, aus dessen Hand sie die Urkunde der Freiheit hoffte nehmen zu können.
Indessen hat die synodale Verfassung in den deutschen Ländern immer mehr
Eingang gefunden, ihre innere Nothwendigkeit hat sich mit einer solchen Macht
aufgedrängt, daß die Abneigung gegen sie ihre Einführung nicht zu hindern
vermochte. Freilich ist die Gestalt, welche diese Verfassung gewonnen hat,
häufig noch eine sehr mangelhafte. Bald fehlen oder sind zu sehr abgeschwächt
die kirchlichen Qualifikationen, bald gehen die Gemeindevertretungen nicht frei
aus der Gemeinde, bald die höheren synodalen Stufen nicht aus der niederen
hervor, bald endlich sind die Competenzen der kirchlichen Vertretungen zumal
dem Landesherrn gegenüber zu gering abgemessen. Am befriedigendsten haben
sich die Verfassungen der evangelischen Kirche in Hannover, Oesterreich und
Würtemberg gestaltet.


Wahrheit und freier Lebenskraft weit übertroffen, sondern auch dem Besten,
was seitdem in diesem Gebiete geschaffen worden, als anerkanntes Vorbild
gedient habe. Daß auf preußischem Gebiet in einer freiheitlichen Entwicklungen
so wenig geneigten Zeit die Synodalverfassung sich gestalten konnte, hatte
besondre Ursachen, einmal die historische Basis im Herzogthum Cleve, sodann
die geschickte Vermittlung des Bischofs Roß, welcher die Annahme der neuen
Agende als Gegengabe in Aussicht stellte. So erhielt 183S Rheinland und
Westfalen die synodale Verfassung. Ihre Stärke ist die Organisation der
Gemeindevertretung, des Presbyteriums; die Unterscheidung zwischen Zuge¬
hörigkeit zur Parochie und zur Gemeinde, die Bedingtheit der letzteren von
kirchlichen Qualitäten schützt vor dem Mißbrauch der wichtigen Gewalten,
welche in die Hände der Gemeindevertretung gelegt sind, der freien Pfarr¬
wahl, der Selbstbesteuerung, der Kirchenzucht. Weniger befriedigend ist die
Organisation der kirchlichen Vertretung auf den höheren Stufen. Auf den
Provinzialsynoden besitzt das Laienelement nur ein Drittheil der Stimmen.

Die Befugnisse der Provinzialsynode auf der einen, des Consistoriums
und der Regierung, welche die kirchlichen Externa verwalten sollten, auf der an¬
dern Seite waren nicht klar gegen einander abgegrenzt. Die wichtigsten Be¬
schlüsse der Provinzialsynode mußten unausgeführt bleiben, die ursprünglich
zugestandne freie Pfarrwahl wurde auf einen engen Umfang beschränkt. Auch
Friedrich Wilhelm IV. dieser fromme, für die evangelische Kirche so warm
fühlende Fürst hat nur wenige Schritte gethan, welche ihre Verfassung för¬
derten. Er stand, wie bekannt, prinzipiell auf einem andern Standpunkte.
Die bischöfliche Verfassung der alten Kirche war sein Ideal. So konnte es
geschehen, daß Versammlungen von kirchlichen Notablen, deren Resultate
ignorirt wurden, ein Oberkirchenrath, der in der Luft schwebte, und Gemeindc-
kirchenräthe ohne Wurzeln und ohne Rechte in der Gemeinde die einzigen
Früchte waren, welche der evangelischen Kirche die Regierung eines Fürsten
trug, aus dessen Hand sie die Urkunde der Freiheit hoffte nehmen zu können.
Indessen hat die synodale Verfassung in den deutschen Ländern immer mehr
Eingang gefunden, ihre innere Nothwendigkeit hat sich mit einer solchen Macht
aufgedrängt, daß die Abneigung gegen sie ihre Einführung nicht zu hindern
vermochte. Freilich ist die Gestalt, welche diese Verfassung gewonnen hat,
häufig noch eine sehr mangelhafte. Bald fehlen oder sind zu sehr abgeschwächt
die kirchlichen Qualifikationen, bald gehen die Gemeindevertretungen nicht frei
aus der Gemeinde, bald die höheren synodalen Stufen nicht aus der niederen
hervor, bald endlich sind die Competenzen der kirchlichen Vertretungen zumal
dem Landesherrn gegenüber zu gering abgemessen. Am befriedigendsten haben
sich die Verfassungen der evangelischen Kirche in Hannover, Oesterreich und
Würtemberg gestaltet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/92>, abgerufen am 23.07.2024.