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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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durch politische Erwägungen gelähmt und der energischen Initiative beraubt,
deren sie durchaus bedarf. Und es kann daher auch nicht auffallen, daß
sich die kirchlichen Organe des Landesherrn nur eine geringe moralische Auto¬
rität erworben haben. Ihnen fehlt die Basis, der innere Halt zu kraftvollem
Wirken. Muth und Freudigkeit zu demselben kann ihnen erst erwachsen, wenn
sie nicht bloß formell, sondern auch materiell sich als Vertreter der Kirche
fühlen, wenn es ihnen gewiß geworden ist, daß die Gemeinden ihr Thun
billigen. Haben die kirchlichen Organe einen solchen Stützpunkt gefunden, so
wird auch die landesherrliche Gewalt, eingeschränkt in rechtlich geordnete
Grenzen, als Ehrenamt in die Verfassung der evangelischen Kirche aufgenom¬
men, sich segensreich für dieselbe erweisen.

Es wird sodann die Frage aufgeworfen, unter welchen Voraussetzungen
ein Erfolg der zum Verfassungsbau berufenen Versammlungen zu erwarten
ist. Es ist in erster Linie die außerordentliche General-Synode, an welche
hier der Verfasser denkt. Er richtet an sie die zwiefache Forderung, einmal
die prinzipiellen Fragen bei Seite zu lassen und sich auf die formellen Fragen
der kirchlichen Organisation zu beschränken, sodann soviel Freiheit der Be¬
wegung als die Einheit der Landeskirche gestattet, den Provinzialkirchen
zu gewähren. Inwieweit der Herr Verfasser den bekannten Vorschlägen
Fabris hier folgt, läßt sich nicht erkennen. Darin stimmen wir mit ihm'
überein, daß die einzelnen Provinzen besondre eigenthümliche kirchliche Typen
vertreten, und daß es nicht angeht,, durch gewaltsames Nivellirer etwa
der rheinischen und pommerschen Provinzialkirche einen gleichen Charakter zu
verleihen.

Und welchen Gewinn wird die synodale Verfassung der evangelischen
Kirche bringen? Sehen wir ab von der moralischen Autorität der kirchlichen
Behörden, auf welche schon vorhin gewiesen wurde, so sucht ihn der Verfasser
mit Recht einmal in dem Ansehen, welches die Kirche im Volksbewußtsein
erlangen wird, sodann in der Milderung der Parteigegensätze durch Hin¬
lenkung auf gemeinsame praktische Arbeit. Beide Hoffnungen scheinen uns
begründet. Eine Gemeinschaft, deren Interessen Vertreter der verschiedensten
Stände und Berufsweisen wahrnehmen, muß dem Volke werthvoll werden.
Und gemeinsame Arbeit auf praktischem Gebiet in rechtlich geordneten Formen
wird wenigstens unter den Parteien einen woäus vivenäi herstellen, der ihnen
jetzt fehlt, und auch vielleicht die einen lehren, daß sie darauf verzichten müssen,
theologischen Differenzen den Werth eines religiösen Dissensus zu geben,
die andern, daß es mindestens taktlos ist, Gegenstände des kirchlichen Be¬
kenntnisses in öffentlichen Versammlungen anzutasten. Unsere kirchlichen Ver¬
hältnisse werden nur dann befriedigend werden, wenn es mehr als bis jetzt


durch politische Erwägungen gelähmt und der energischen Initiative beraubt,
deren sie durchaus bedarf. Und es kann daher auch nicht auffallen, daß
sich die kirchlichen Organe des Landesherrn nur eine geringe moralische Auto¬
rität erworben haben. Ihnen fehlt die Basis, der innere Halt zu kraftvollem
Wirken. Muth und Freudigkeit zu demselben kann ihnen erst erwachsen, wenn
sie nicht bloß formell, sondern auch materiell sich als Vertreter der Kirche
fühlen, wenn es ihnen gewiß geworden ist, daß die Gemeinden ihr Thun
billigen. Haben die kirchlichen Organe einen solchen Stützpunkt gefunden, so
wird auch die landesherrliche Gewalt, eingeschränkt in rechtlich geordnete
Grenzen, als Ehrenamt in die Verfassung der evangelischen Kirche aufgenom¬
men, sich segensreich für dieselbe erweisen.

Es wird sodann die Frage aufgeworfen, unter welchen Voraussetzungen
ein Erfolg der zum Verfassungsbau berufenen Versammlungen zu erwarten
ist. Es ist in erster Linie die außerordentliche General-Synode, an welche
hier der Verfasser denkt. Er richtet an sie die zwiefache Forderung, einmal
die prinzipiellen Fragen bei Seite zu lassen und sich auf die formellen Fragen
der kirchlichen Organisation zu beschränken, sodann soviel Freiheit der Be¬
wegung als die Einheit der Landeskirche gestattet, den Provinzialkirchen
zu gewähren. Inwieweit der Herr Verfasser den bekannten Vorschlägen
Fabris hier folgt, läßt sich nicht erkennen. Darin stimmen wir mit ihm'
überein, daß die einzelnen Provinzen besondre eigenthümliche kirchliche Typen
vertreten, und daß es nicht angeht,, durch gewaltsames Nivellirer etwa
der rheinischen und pommerschen Provinzialkirche einen gleichen Charakter zu
verleihen.

Und welchen Gewinn wird die synodale Verfassung der evangelischen
Kirche bringen? Sehen wir ab von der moralischen Autorität der kirchlichen
Behörden, auf welche schon vorhin gewiesen wurde, so sucht ihn der Verfasser
mit Recht einmal in dem Ansehen, welches die Kirche im Volksbewußtsein
erlangen wird, sodann in der Milderung der Parteigegensätze durch Hin¬
lenkung auf gemeinsame praktische Arbeit. Beide Hoffnungen scheinen uns
begründet. Eine Gemeinschaft, deren Interessen Vertreter der verschiedensten
Stände und Berufsweisen wahrnehmen, muß dem Volke werthvoll werden.
Und gemeinsame Arbeit auf praktischem Gebiet in rechtlich geordneten Formen
wird wenigstens unter den Parteien einen woäus vivenäi herstellen, der ihnen
jetzt fehlt, und auch vielleicht die einen lehren, daß sie darauf verzichten müssen,
theologischen Differenzen den Werth eines religiösen Dissensus zu geben,
die andern, daß es mindestens taktlos ist, Gegenstände des kirchlichen Be¬
kenntnisses in öffentlichen Versammlungen anzutasten. Unsere kirchlichen Ver¬
hältnisse werden nur dann befriedigend werden, wenn es mehr als bis jetzt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/90>, abgerufen am 23.07.2024.