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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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In seinem Gefängniß, einem kleinen Stübchen mit einem gewöhnlichen
Fenster, von außen mit senkrechtem Eisengitter verschlossen, dicht an der höl¬
zernen Treppe zur Thür hinunter, welche nicht auf den Molkenmarkt führte,
sondern auf den damals freien Platz zwischen dem Mühlendamm und der
Spree, übte er sich, mit angezogenen Stiefeln schnell, zugleich aber so leise zu
gehen, daß er selbst nichts davon hörte. Erst am Abend der Flucht schnitt
er seinen Bart ab. In den beiden Deckeln der Bibel, welche man ihm ge¬
lassen, waren schon in Köln Louisd'or, auf deren Zahl ich mich nicht mehr er¬
innere, eingebunden. Bei einem Besuch des Ober-Jnspectors der Gefängnisse
bei dem Gefangenen fand jener das Buch auffallend schwer. Mit angenommener
Gleichgültigkeit gab der Gefangene dieses zu, und jener legte das Buch
wieder hin.

Am 3. Mai 1821 Abends 9 Uhr riß er der Bibel die Deckel ab. steckte
das Geld zu sich, zog sich vollständig an, nahm die ihm besorgte Studenten-
Matrikel an sich und trat aus dem Gefängniß auf den Hausflur. Mittels
des Bindfadens, welchen er an dem Riegel unter dem Schloß befestigt hatte,
zog er nunmehr denselben in die Krämpe des Schlosses. Damit war ihm der
Rückweg in das Gefängniß versperrt.

Die bei offener Thür in dem Zimmer auf der anderen Seite der Treppe
wachhabenden Gensdarmen unterhielten sich laut und hörten nichts davon,
daß der Gefangene die hölzerne Treppe hinuntereilte. Noch etwa vier Stufen
von dem Erdboden und von der Hausthüre entfernt, wurde diese, wahrscheinlich
von einem Dienstboten des Gefangen-Oberinspektors verschlossen, v. Mühlen¬
fels, in der peinlichsten Verlegenheit, verlangte, noch hinausgelassen zu werden.
Dieses geschah. Der Wachposten an der Thüre ließ ihn unbeanstandet seines
Weges gehen. Wer hätte auch wohl in dem wohlgekleideter Herrn einen
Gefangenen vermuthet!

v. Mühlenfels wollte zunächst zu einem Freunde, sechs Meilen südlich
von Berlin, um mit diesem Rath zu Pflegen, was weiter zu thun sei. Aber
schon unweit des schlesischen Thores wurde ihm klar, daß er, in Folge der
im Kriege von 1813 als Lützower Reiter erhaltenen Wunden und des
Mangels an Bewegung im Gefängniß seit beinahe 2 Jahren sechs Meilen
zu Fuß zurückzulegen nicht mehr im Stande sei.

Er begab sich nunmehr zur Post und verlangte unter Vorzeigung der
ihm zugestellten Studenten-Matrikel Extrapost nach Oranienburg. Der Post¬
beamte verlangte dazu die schriftliche Erlaubniß des zeitigen Rektors der Hoch¬
schule. Diese sofort zu beschaffen erklärte v. Mühlenfels sich ganz außer
Stand. Der Rektor habe bereits seine, dem Bittsteller unbekannte Sommer¬
wohnung außerhalb der Stadt bezogen. Erst am folgenden Vormittag von
9 Uhr ab sei derselbe im Universitätsgebäude anzutreffen. Bis dahin könne


In seinem Gefängniß, einem kleinen Stübchen mit einem gewöhnlichen
Fenster, von außen mit senkrechtem Eisengitter verschlossen, dicht an der höl¬
zernen Treppe zur Thür hinunter, welche nicht auf den Molkenmarkt führte,
sondern auf den damals freien Platz zwischen dem Mühlendamm und der
Spree, übte er sich, mit angezogenen Stiefeln schnell, zugleich aber so leise zu
gehen, daß er selbst nichts davon hörte. Erst am Abend der Flucht schnitt
er seinen Bart ab. In den beiden Deckeln der Bibel, welche man ihm ge¬
lassen, waren schon in Köln Louisd'or, auf deren Zahl ich mich nicht mehr er¬
innere, eingebunden. Bei einem Besuch des Ober-Jnspectors der Gefängnisse
bei dem Gefangenen fand jener das Buch auffallend schwer. Mit angenommener
Gleichgültigkeit gab der Gefangene dieses zu, und jener legte das Buch
wieder hin.

Am 3. Mai 1821 Abends 9 Uhr riß er der Bibel die Deckel ab. steckte
das Geld zu sich, zog sich vollständig an, nahm die ihm besorgte Studenten-
Matrikel an sich und trat aus dem Gefängniß auf den Hausflur. Mittels
des Bindfadens, welchen er an dem Riegel unter dem Schloß befestigt hatte,
zog er nunmehr denselben in die Krämpe des Schlosses. Damit war ihm der
Rückweg in das Gefängniß versperrt.

Die bei offener Thür in dem Zimmer auf der anderen Seite der Treppe
wachhabenden Gensdarmen unterhielten sich laut und hörten nichts davon,
daß der Gefangene die hölzerne Treppe hinuntereilte. Noch etwa vier Stufen
von dem Erdboden und von der Hausthüre entfernt, wurde diese, wahrscheinlich
von einem Dienstboten des Gefangen-Oberinspektors verschlossen, v. Mühlen¬
fels, in der peinlichsten Verlegenheit, verlangte, noch hinausgelassen zu werden.
Dieses geschah. Der Wachposten an der Thüre ließ ihn unbeanstandet seines
Weges gehen. Wer hätte auch wohl in dem wohlgekleideter Herrn einen
Gefangenen vermuthet!

v. Mühlenfels wollte zunächst zu einem Freunde, sechs Meilen südlich
von Berlin, um mit diesem Rath zu Pflegen, was weiter zu thun sei. Aber
schon unweit des schlesischen Thores wurde ihm klar, daß er, in Folge der
im Kriege von 1813 als Lützower Reiter erhaltenen Wunden und des
Mangels an Bewegung im Gefängniß seit beinahe 2 Jahren sechs Meilen
zu Fuß zurückzulegen nicht mehr im Stande sei.

Er begab sich nunmehr zur Post und verlangte unter Vorzeigung der
ihm zugestellten Studenten-Matrikel Extrapost nach Oranienburg. Der Post¬
beamte verlangte dazu die schriftliche Erlaubniß des zeitigen Rektors der Hoch¬
schule. Diese sofort zu beschaffen erklärte v. Mühlenfels sich ganz außer
Stand. Der Rektor habe bereits seine, dem Bittsteller unbekannte Sommer¬
wohnung außerhalb der Stadt bezogen. Erst am folgenden Vormittag von
9 Uhr ab sei derselbe im Universitätsgebäude anzutreffen. Bis dahin könne


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[0077] In seinem Gefängniß, einem kleinen Stübchen mit einem gewöhnlichen Fenster, von außen mit senkrechtem Eisengitter verschlossen, dicht an der höl¬ zernen Treppe zur Thür hinunter, welche nicht auf den Molkenmarkt führte, sondern auf den damals freien Platz zwischen dem Mühlendamm und der Spree, übte er sich, mit angezogenen Stiefeln schnell, zugleich aber so leise zu gehen, daß er selbst nichts davon hörte. Erst am Abend der Flucht schnitt er seinen Bart ab. In den beiden Deckeln der Bibel, welche man ihm ge¬ lassen, waren schon in Köln Louisd'or, auf deren Zahl ich mich nicht mehr er¬ innere, eingebunden. Bei einem Besuch des Ober-Jnspectors der Gefängnisse bei dem Gefangenen fand jener das Buch auffallend schwer. Mit angenommener Gleichgültigkeit gab der Gefangene dieses zu, und jener legte das Buch wieder hin. Am 3. Mai 1821 Abends 9 Uhr riß er der Bibel die Deckel ab. steckte das Geld zu sich, zog sich vollständig an, nahm die ihm besorgte Studenten- Matrikel an sich und trat aus dem Gefängniß auf den Hausflur. Mittels des Bindfadens, welchen er an dem Riegel unter dem Schloß befestigt hatte, zog er nunmehr denselben in die Krämpe des Schlosses. Damit war ihm der Rückweg in das Gefängniß versperrt. Die bei offener Thür in dem Zimmer auf der anderen Seite der Treppe wachhabenden Gensdarmen unterhielten sich laut und hörten nichts davon, daß der Gefangene die hölzerne Treppe hinuntereilte. Noch etwa vier Stufen von dem Erdboden und von der Hausthüre entfernt, wurde diese, wahrscheinlich von einem Dienstboten des Gefangen-Oberinspektors verschlossen, v. Mühlen¬ fels, in der peinlichsten Verlegenheit, verlangte, noch hinausgelassen zu werden. Dieses geschah. Der Wachposten an der Thüre ließ ihn unbeanstandet seines Weges gehen. Wer hätte auch wohl in dem wohlgekleideter Herrn einen Gefangenen vermuthet! v. Mühlenfels wollte zunächst zu einem Freunde, sechs Meilen südlich von Berlin, um mit diesem Rath zu Pflegen, was weiter zu thun sei. Aber schon unweit des schlesischen Thores wurde ihm klar, daß er, in Folge der im Kriege von 1813 als Lützower Reiter erhaltenen Wunden und des Mangels an Bewegung im Gefängniß seit beinahe 2 Jahren sechs Meilen zu Fuß zurückzulegen nicht mehr im Stande sei. Er begab sich nunmehr zur Post und verlangte unter Vorzeigung der ihm zugestellten Studenten-Matrikel Extrapost nach Oranienburg. Der Post¬ beamte verlangte dazu die schriftliche Erlaubniß des zeitigen Rektors der Hoch¬ schule. Diese sofort zu beschaffen erklärte v. Mühlenfels sich ganz außer Stand. Der Rektor habe bereits seine, dem Bittsteller unbekannte Sommer¬ wohnung außerhalb der Stadt bezogen. Erst am folgenden Vormittag von 9 Uhr ab sei derselbe im Universitätsgebäude anzutreffen. Bis dahin könne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/77>, abgerufen am 23.07.2024.