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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Dies vogtländische Volkslied gleichsam entdeckt zu haben, ist das Verdienst
eines jungen Gelehrten, des or, He rman n D un ge r. der seit Jahren in Dres¬
den als Gymnasiallehrer thätig, doch seiner vogtländischen Heimath eine warme
Liebe bewahrt und mit unermüdlichem Eifer und großem Geschick eine ge¬
raume Zahl von Jahren hindurch gesammelt hat. Denn beide Eigenschaften
sind durchaus nöthig. Dem städtisch Gebildeten gegenüber ist der vogtlän¬
dische Landmann, so offen und fröhlich er unter seines Gleichen sein kann,
sehr zugeknöpft, wenn er nicht gar den zudringlich scheinenden Frager mit
echter Bauernschlauheit hinters Licht führt. Dünger hat bisher eine größere
Probe vogtländischer Volkslieder in seiner oben citirten Arbeit gegeben, der
in naher Zukunft eine größere Sammlung folgen soll, und die zahlreichen im
Vogtlande gesungenen Volkskmderlieder und Volkskinderspiele in einer besonderen
Schrift edirt (Kinderlieder und Kinderspiele aus dem Vogtlande mit einem
Vortrage über volksthümliche Kinderpoesie. Plauen i. V., Verlag v. F. E.
Neupert 1874). Es sei uns verstattet zunächst aus der Sammlung der Volks¬
lieder Einiges mitzutheilen.

Im Ganzen weniger stark entwickelt sind mehrstrophische Lieder:
Liebeslieder, Trinklieder, Balladen. Von letzteren giebt Dünger eine Probe,
das Lied vom Gastwirth und seinem Sohn. Die dann erzählte Handlung
ist auch sonst in mancherlei Variation poetisch dargestellt worden. Nach lan¬
ger Abwesenheit kommt der Sohn des Hauses als ein wohlhabender Mann
von der Wanderschaft zurück. Die Eltern erkennen ihn nicht, er selbst nennt
sich zunächst nicht ihnen, sondern nur seiner Schwester. In der Nacht aber
ermordet der Gastwirth den eignen Sohn, in der Meinung, einen Fremden
vor sich zu haben. Zu spät entdeckt ihm die Tochter das Gräßliche; da giebt
er wie die Mutter sich den Tod. --

In viel größerer, nahezu unerschöpflicher Zahl treten die einstrophigen
Liedchen auf; sie besonders sind der noch fröhlich weiterlebende Theil der
Volksdichtung der durch immer neue Liedchen vermehrt wird. Der Vogtlän¬
der nennt diese kleinen Gedichte RundK's, auch Schlumperliedl (von
schlumpern, schlampen, d. i. sich gehen lassen) oder Schumberlicdl (schand¬
bare, profane Lieder im Gegensatz zum geistlichen Liede). Sie entsprechen
genau den süddeutschen Schnaderhüpfln, Schelmeliedle, G'sangln und wie die
Ausdrücke sonst lauten. Ihre eigentliche Heimath ist der Tanzboden, dessen
Lust der vogtländische Landmann zu schätzen und zu genießen weiß, wie irgend
einer. Hier stimmen bald die Mädchen, ihre Reigen schlingend, dergleichen
Lieder an, bald ein "Bursche": er "legt auf", d. h. giebt den Musikanten
ein Stück Geld und singt nun, von ihnen begleitet, mit dem Glase in der
Hand mehrere Lieder. Auch beim Trinken am Wirthstisch, bei den sog. ,.Som-
merhaufeln". d. h. den abendlichen Zusammenkünften des jungen Volkes im


Dies vogtländische Volkslied gleichsam entdeckt zu haben, ist das Verdienst
eines jungen Gelehrten, des or, He rman n D un ge r. der seit Jahren in Dres¬
den als Gymnasiallehrer thätig, doch seiner vogtländischen Heimath eine warme
Liebe bewahrt und mit unermüdlichem Eifer und großem Geschick eine ge¬
raume Zahl von Jahren hindurch gesammelt hat. Denn beide Eigenschaften
sind durchaus nöthig. Dem städtisch Gebildeten gegenüber ist der vogtlän¬
dische Landmann, so offen und fröhlich er unter seines Gleichen sein kann,
sehr zugeknöpft, wenn er nicht gar den zudringlich scheinenden Frager mit
echter Bauernschlauheit hinters Licht führt. Dünger hat bisher eine größere
Probe vogtländischer Volkslieder in seiner oben citirten Arbeit gegeben, der
in naher Zukunft eine größere Sammlung folgen soll, und die zahlreichen im
Vogtlande gesungenen Volkskmderlieder und Volkskinderspiele in einer besonderen
Schrift edirt (Kinderlieder und Kinderspiele aus dem Vogtlande mit einem
Vortrage über volksthümliche Kinderpoesie. Plauen i. V., Verlag v. F. E.
Neupert 1874). Es sei uns verstattet zunächst aus der Sammlung der Volks¬
lieder Einiges mitzutheilen.

Im Ganzen weniger stark entwickelt sind mehrstrophische Lieder:
Liebeslieder, Trinklieder, Balladen. Von letzteren giebt Dünger eine Probe,
das Lied vom Gastwirth und seinem Sohn. Die dann erzählte Handlung
ist auch sonst in mancherlei Variation poetisch dargestellt worden. Nach lan¬
ger Abwesenheit kommt der Sohn des Hauses als ein wohlhabender Mann
von der Wanderschaft zurück. Die Eltern erkennen ihn nicht, er selbst nennt
sich zunächst nicht ihnen, sondern nur seiner Schwester. In der Nacht aber
ermordet der Gastwirth den eignen Sohn, in der Meinung, einen Fremden
vor sich zu haben. Zu spät entdeckt ihm die Tochter das Gräßliche; da giebt
er wie die Mutter sich den Tod. —

In viel größerer, nahezu unerschöpflicher Zahl treten die einstrophigen
Liedchen auf; sie besonders sind der noch fröhlich weiterlebende Theil der
Volksdichtung der durch immer neue Liedchen vermehrt wird. Der Vogtlän¬
der nennt diese kleinen Gedichte RundK's, auch Schlumperliedl (von
schlumpern, schlampen, d. i. sich gehen lassen) oder Schumberlicdl (schand¬
bare, profane Lieder im Gegensatz zum geistlichen Liede). Sie entsprechen
genau den süddeutschen Schnaderhüpfln, Schelmeliedle, G'sangln und wie die
Ausdrücke sonst lauten. Ihre eigentliche Heimath ist der Tanzboden, dessen
Lust der vogtländische Landmann zu schätzen und zu genießen weiß, wie irgend
einer. Hier stimmen bald die Mädchen, ihre Reigen schlingend, dergleichen
Lieder an, bald ein „Bursche": er „legt auf", d. h. giebt den Musikanten
ein Stück Geld und singt nun, von ihnen begleitet, mit dem Glase in der
Hand mehrere Lieder. Auch beim Trinken am Wirthstisch, bei den sog. ,.Som-
merhaufeln". d. h. den abendlichen Zusammenkünften des jungen Volkes im


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[0072] Dies vogtländische Volkslied gleichsam entdeckt zu haben, ist das Verdienst eines jungen Gelehrten, des or, He rman n D un ge r. der seit Jahren in Dres¬ den als Gymnasiallehrer thätig, doch seiner vogtländischen Heimath eine warme Liebe bewahrt und mit unermüdlichem Eifer und großem Geschick eine ge¬ raume Zahl von Jahren hindurch gesammelt hat. Denn beide Eigenschaften sind durchaus nöthig. Dem städtisch Gebildeten gegenüber ist der vogtlän¬ dische Landmann, so offen und fröhlich er unter seines Gleichen sein kann, sehr zugeknöpft, wenn er nicht gar den zudringlich scheinenden Frager mit echter Bauernschlauheit hinters Licht führt. Dünger hat bisher eine größere Probe vogtländischer Volkslieder in seiner oben citirten Arbeit gegeben, der in naher Zukunft eine größere Sammlung folgen soll, und die zahlreichen im Vogtlande gesungenen Volkskmderlieder und Volkskinderspiele in einer besonderen Schrift edirt (Kinderlieder und Kinderspiele aus dem Vogtlande mit einem Vortrage über volksthümliche Kinderpoesie. Plauen i. V., Verlag v. F. E. Neupert 1874). Es sei uns verstattet zunächst aus der Sammlung der Volks¬ lieder Einiges mitzutheilen. Im Ganzen weniger stark entwickelt sind mehrstrophische Lieder: Liebeslieder, Trinklieder, Balladen. Von letzteren giebt Dünger eine Probe, das Lied vom Gastwirth und seinem Sohn. Die dann erzählte Handlung ist auch sonst in mancherlei Variation poetisch dargestellt worden. Nach lan¬ ger Abwesenheit kommt der Sohn des Hauses als ein wohlhabender Mann von der Wanderschaft zurück. Die Eltern erkennen ihn nicht, er selbst nennt sich zunächst nicht ihnen, sondern nur seiner Schwester. In der Nacht aber ermordet der Gastwirth den eignen Sohn, in der Meinung, einen Fremden vor sich zu haben. Zu spät entdeckt ihm die Tochter das Gräßliche; da giebt er wie die Mutter sich den Tod. — In viel größerer, nahezu unerschöpflicher Zahl treten die einstrophigen Liedchen auf; sie besonders sind der noch fröhlich weiterlebende Theil der Volksdichtung der durch immer neue Liedchen vermehrt wird. Der Vogtlän¬ der nennt diese kleinen Gedichte RundK's, auch Schlumperliedl (von schlumpern, schlampen, d. i. sich gehen lassen) oder Schumberlicdl (schand¬ bare, profane Lieder im Gegensatz zum geistlichen Liede). Sie entsprechen genau den süddeutschen Schnaderhüpfln, Schelmeliedle, G'sangln und wie die Ausdrücke sonst lauten. Ihre eigentliche Heimath ist der Tanzboden, dessen Lust der vogtländische Landmann zu schätzen und zu genießen weiß, wie irgend einer. Hier stimmen bald die Mädchen, ihre Reigen schlingend, dergleichen Lieder an, bald ein „Bursche": er „legt auf", d. h. giebt den Musikanten ein Stück Geld und singt nun, von ihnen begleitet, mit dem Glase in der Hand mehrere Lieder. Auch beim Trinken am Wirthstisch, bei den sog. ,.Som- merhaufeln". d. h. den abendlichen Zusammenkünften des jungen Volkes im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/72>, abgerufen am 23.07.2024.