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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Man könnte für den ersten Augenblick meinen, dieselben bildeten ein Centrum,
eine Mittelpartei, aber in der gegenwärtigen Kammer giebt es bekanntlich
keine solche; man kennt nur das alte Feldgeschrei: "hier Wels, hier Wald-
ungen!" Im Gegentheil: hinter jenen Tischchen haben sehr entschiedene Mit¬
glieder der Fortschrittspartei Platz genommen, da sitzt z. B. der Abgeordnete
für Nürnberg, der diese Stadt auch im Reichstage vertritt, der Advokat
Frankenburger, ein kleines, lebhaftes bewegliches Männchen, im gesellschaft¬
lichen Umgange einer der liebenswürdigsten Menschen, aber in der Kammer
einer der klarsten, schneidigsten Redner, der, ohne allzu schroff zu sein, seinem
Nachbar zur Linken schon manche schlimme Wunde beigebracht hat. Neben
ihm steht eine wahre Riesengestalt, der Staatsanwalt Wülfert, wohl der
schönste Mann des Hauses, der sich seine juristischen Lorbeeren im Chorinsky-
prozeß geholt und auch hier zu den gewandtesten Sprechern zählt, obwohl er
manchmal ein wenig gar zu trocken, gar zu staatsanwaltschaftlich spricht.
Auch Professor Marquardsen von Erlangen hat an einem dieser Tischchen
seinen Platz, obwohl man ihn selten dort sieht, denn er gehört zu den "Be¬
weglichen" der Kammer, die bald da, bald dort sind, hier mit dem Minister-
tisch, dort mit einem Abgeordneten zu conferiren haben, selten mit einer
längeren Rede, aber desto öfter mit einer kurzen Bemerkung in die Debatte
eingreifen oder ihr zur Hülfe kommen und so auch äußerlich ihre prononcirte
Stellung unter den Mitgliedern ihrer Partei bekunden. Herr Marquardsen
ist dermalen, seit Marquard Barth seinen Sitz in der bairischen Kammer mit
dem Fauteuil im Neichshandclsgericht vertauscht hat, der Führer der Liberalen
der Präsident ihres Klubbs, der Vermittler auch, wo einmal gegenseitige
Fühlung stattfinden muß, mit der rechten Seite des Hauses, welche in ähn¬
licher Weise von dem Advocaten Freytag vertreten wird.

Früher waren alle diese Würden auf dem Haupte des Freiherrn Schenk von
Stauffenberg vereint. Seitdem dieser aber den Präsidentenstuhl bestiegen, muß
natürlich von ihm noch mehr als vom "Dichter" das auf letztern gemünzte
Freiligrath'sche Wort gelten


"er steht auf einer höhern Warte,
als auf den Zinnen der Partei,"

d. h. er konnte nicht mehr Vorstand und Leiter der liberalen Fraktion sein
und diese hat vielleicht eines der schwersten Opfer gebracht, die man ihr nur
ansinnen konnte, indem sie diese eminente organisatorische und zusammenhal¬
tende Kraft sich dem engern Kreis entziehen ließ. Aber das Ganze tauschte
mit ihr zu viel des Guten und Förderlichen ein, als daß nicht alles hätte auf¬
geboten werden sollen, sie an die Stelle zu bringen, an welcher sie nun wirkt
und so trefflich schon sich bewährt hat. Die parlamentarische Geschichte der
deutschen Staaten wird wohl nur wenige Männer aufweisen, die sich gleich


Grenzboten I. I87S. 60

Man könnte für den ersten Augenblick meinen, dieselben bildeten ein Centrum,
eine Mittelpartei, aber in der gegenwärtigen Kammer giebt es bekanntlich
keine solche; man kennt nur das alte Feldgeschrei: „hier Wels, hier Wald-
ungen!" Im Gegentheil: hinter jenen Tischchen haben sehr entschiedene Mit¬
glieder der Fortschrittspartei Platz genommen, da sitzt z. B. der Abgeordnete
für Nürnberg, der diese Stadt auch im Reichstage vertritt, der Advokat
Frankenburger, ein kleines, lebhaftes bewegliches Männchen, im gesellschaft¬
lichen Umgange einer der liebenswürdigsten Menschen, aber in der Kammer
einer der klarsten, schneidigsten Redner, der, ohne allzu schroff zu sein, seinem
Nachbar zur Linken schon manche schlimme Wunde beigebracht hat. Neben
ihm steht eine wahre Riesengestalt, der Staatsanwalt Wülfert, wohl der
schönste Mann des Hauses, der sich seine juristischen Lorbeeren im Chorinsky-
prozeß geholt und auch hier zu den gewandtesten Sprechern zählt, obwohl er
manchmal ein wenig gar zu trocken, gar zu staatsanwaltschaftlich spricht.
Auch Professor Marquardsen von Erlangen hat an einem dieser Tischchen
seinen Platz, obwohl man ihn selten dort sieht, denn er gehört zu den „Be¬
weglichen" der Kammer, die bald da, bald dort sind, hier mit dem Minister-
tisch, dort mit einem Abgeordneten zu conferiren haben, selten mit einer
längeren Rede, aber desto öfter mit einer kurzen Bemerkung in die Debatte
eingreifen oder ihr zur Hülfe kommen und so auch äußerlich ihre prononcirte
Stellung unter den Mitgliedern ihrer Partei bekunden. Herr Marquardsen
ist dermalen, seit Marquard Barth seinen Sitz in der bairischen Kammer mit
dem Fauteuil im Neichshandclsgericht vertauscht hat, der Führer der Liberalen
der Präsident ihres Klubbs, der Vermittler auch, wo einmal gegenseitige
Fühlung stattfinden muß, mit der rechten Seite des Hauses, welche in ähn¬
licher Weise von dem Advocaten Freytag vertreten wird.

Früher waren alle diese Würden auf dem Haupte des Freiherrn Schenk von
Stauffenberg vereint. Seitdem dieser aber den Präsidentenstuhl bestiegen, muß
natürlich von ihm noch mehr als vom „Dichter" das auf letztern gemünzte
Freiligrath'sche Wort gelten


„er steht auf einer höhern Warte,
als auf den Zinnen der Partei,"

d. h. er konnte nicht mehr Vorstand und Leiter der liberalen Fraktion sein
und diese hat vielleicht eines der schwersten Opfer gebracht, die man ihr nur
ansinnen konnte, indem sie diese eminente organisatorische und zusammenhal¬
tende Kraft sich dem engern Kreis entziehen ließ. Aber das Ganze tauschte
mit ihr zu viel des Guten und Förderlichen ein, als daß nicht alles hätte auf¬
geboten werden sollen, sie an die Stelle zu bringen, an welcher sie nun wirkt
und so trefflich schon sich bewährt hat. Die parlamentarische Geschichte der
deutschen Staaten wird wohl nur wenige Männer aufweisen, die sich gleich


Grenzboten I. I87S. 60
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[0481] Man könnte für den ersten Augenblick meinen, dieselben bildeten ein Centrum, eine Mittelpartei, aber in der gegenwärtigen Kammer giebt es bekanntlich keine solche; man kennt nur das alte Feldgeschrei: „hier Wels, hier Wald- ungen!" Im Gegentheil: hinter jenen Tischchen haben sehr entschiedene Mit¬ glieder der Fortschrittspartei Platz genommen, da sitzt z. B. der Abgeordnete für Nürnberg, der diese Stadt auch im Reichstage vertritt, der Advokat Frankenburger, ein kleines, lebhaftes bewegliches Männchen, im gesellschaft¬ lichen Umgange einer der liebenswürdigsten Menschen, aber in der Kammer einer der klarsten, schneidigsten Redner, der, ohne allzu schroff zu sein, seinem Nachbar zur Linken schon manche schlimme Wunde beigebracht hat. Neben ihm steht eine wahre Riesengestalt, der Staatsanwalt Wülfert, wohl der schönste Mann des Hauses, der sich seine juristischen Lorbeeren im Chorinsky- prozeß geholt und auch hier zu den gewandtesten Sprechern zählt, obwohl er manchmal ein wenig gar zu trocken, gar zu staatsanwaltschaftlich spricht. Auch Professor Marquardsen von Erlangen hat an einem dieser Tischchen seinen Platz, obwohl man ihn selten dort sieht, denn er gehört zu den „Be¬ weglichen" der Kammer, die bald da, bald dort sind, hier mit dem Minister- tisch, dort mit einem Abgeordneten zu conferiren haben, selten mit einer längeren Rede, aber desto öfter mit einer kurzen Bemerkung in die Debatte eingreifen oder ihr zur Hülfe kommen und so auch äußerlich ihre prononcirte Stellung unter den Mitgliedern ihrer Partei bekunden. Herr Marquardsen ist dermalen, seit Marquard Barth seinen Sitz in der bairischen Kammer mit dem Fauteuil im Neichshandclsgericht vertauscht hat, der Führer der Liberalen der Präsident ihres Klubbs, der Vermittler auch, wo einmal gegenseitige Fühlung stattfinden muß, mit der rechten Seite des Hauses, welche in ähn¬ licher Weise von dem Advocaten Freytag vertreten wird. Früher waren alle diese Würden auf dem Haupte des Freiherrn Schenk von Stauffenberg vereint. Seitdem dieser aber den Präsidentenstuhl bestiegen, muß natürlich von ihm noch mehr als vom „Dichter" das auf letztern gemünzte Freiligrath'sche Wort gelten „er steht auf einer höhern Warte, als auf den Zinnen der Partei," d. h. er konnte nicht mehr Vorstand und Leiter der liberalen Fraktion sein und diese hat vielleicht eines der schwersten Opfer gebracht, die man ihr nur ansinnen konnte, indem sie diese eminente organisatorische und zusammenhal¬ tende Kraft sich dem engern Kreis entziehen ließ. Aber das Ganze tauschte mit ihr zu viel des Guten und Förderlichen ein, als daß nicht alles hätte auf¬ geboten werden sollen, sie an die Stelle zu bringen, an welcher sie nun wirkt und so trefflich schon sich bewährt hat. Die parlamentarische Geschichte der deutschen Staaten wird wohl nur wenige Männer aufweisen, die sich gleich Grenzboten I. I87S. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/481>, abgerufen am 01.07.2024.