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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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wenn auch das große Publikum sich wenig um sie bekümmerte, und die Ge¬
dankenträgheit der Menge sich von fingerfertigen Feuilletonschreibern gern ein¬
reden ließ, daß es mit der Philosophie nichts mehr sei. Und der Wendepunkt
zum Bessern scheint da zu sein; dafür sprechen wenigstens die neuen Auflagen,
welche für manche umfassende Werke nöthig geworden. Die deutsche Bildung
fängt an sich zu besinnen, seitdem syllabuswüthige Ultramontane, Kraft- und
Stoff-Titanen und verwegne Communisten ihr den Krieg erklärt haben; man
erinnert sich der Philosophie, von der ja Novalis gesagt: Sie kann freilich
kein Brot backen, aber sie kann uns Gott, Freiheit, Unsterblichkeit bieten;
was ist nun praktischer, Philosophie oder Oekonomie?

Eduard von Hartmann hat mit seiner Philosophie des Unbewußten das
Interesse an philosophischen Fragen wohl gerade dadurch wieder wach gerufen,
daß er der Fülle des empirischen Materials, vor allem den Ergebnissen der Na¬
turforschung ihr Recht ließ, aber dabei überall auf ein ideales, metaphysisches
Princip hinwies, und daß er dies das Unbewußte nannte; denn seltsamer
Weise geht die Zeitströmung dahin nicht im selbstbewußten Willen, sondern
in blinden Kräften das Urwesen und den Grund der Welt haben zu wollen.
Der gewöhnliche Deismus, welcher Gott neben die Welt wie einen Uhrmacher
neben die Uhr stellt, ist unhaltbar geworden, die Natur trägt nicht den Stempel
des Gemachtem, sondern des sich selbst Entwickelnden, und dem religiösen Ge¬
fühl genügt kein jenseitiger Gott, es will in ihm leben und weben. So will
man, und mit Recht, Eines in Allem und Alles in Einem haben, das Ewige
soll der zeitlichen Entfaltung, das Ideale dem Realen einwohnen; man wen¬
det sich dem Pantheismus zu. In früheren Jahrhunderten hat man die Natur
aus dem Geist erklärt; man sah Geister im Donner und im Sonnenlichte,
im Wachsthum der Pflanzen und im Aufsprudeln des Quells wirken, Intelli¬
genzen schoben den Stern in den himmlischen Sphären. und Attraction oder
Repulsion der Materie war das Ergebniß von Sympathie und Antipathie.
An die Stelle dieser Geister und ihres Fühlens und Wollens sind die Natur¬
gesetze mit ihrer Nothwendigkeit, ist der Mechanismus von Druck und Stoß,
ist die Mannigfaltigkeit der Bewegungsformen der Atome und die Metamor¬
phose der Kraft getreten. Die Natur wird natürlich erklärt. Wer den Gang
der Geschichte kennt, wie sie durch Extreme voranschreitet, der wundert sich
nicht darüber, daß man nicht blos die Methode, sondern auch die Ergebnisse
der Naturforschung auf den Geist und das Ideale anwendet, daß man das
bewußte Seelenleben und seine Entfaltung in Staat. Religion und Kunst
gleichfalls auf den Mechanismus der mit blinder Nothwendigkeit wirkenden phy¬
sikalischen Atome zurückführt und aus bloßem Stoffwechsel und materieller Be¬
wegung hervorgehen läßt. Es ist der entgegengesetzte Uebergriff wie dort: es
ist der Rückschlag der Naturerklärung gegen den Geist, der früher alles Na-


wenn auch das große Publikum sich wenig um sie bekümmerte, und die Ge¬
dankenträgheit der Menge sich von fingerfertigen Feuilletonschreibern gern ein¬
reden ließ, daß es mit der Philosophie nichts mehr sei. Und der Wendepunkt
zum Bessern scheint da zu sein; dafür sprechen wenigstens die neuen Auflagen,
welche für manche umfassende Werke nöthig geworden. Die deutsche Bildung
fängt an sich zu besinnen, seitdem syllabuswüthige Ultramontane, Kraft- und
Stoff-Titanen und verwegne Communisten ihr den Krieg erklärt haben; man
erinnert sich der Philosophie, von der ja Novalis gesagt: Sie kann freilich
kein Brot backen, aber sie kann uns Gott, Freiheit, Unsterblichkeit bieten;
was ist nun praktischer, Philosophie oder Oekonomie?

Eduard von Hartmann hat mit seiner Philosophie des Unbewußten das
Interesse an philosophischen Fragen wohl gerade dadurch wieder wach gerufen,
daß er der Fülle des empirischen Materials, vor allem den Ergebnissen der Na¬
turforschung ihr Recht ließ, aber dabei überall auf ein ideales, metaphysisches
Princip hinwies, und daß er dies das Unbewußte nannte; denn seltsamer
Weise geht die Zeitströmung dahin nicht im selbstbewußten Willen, sondern
in blinden Kräften das Urwesen und den Grund der Welt haben zu wollen.
Der gewöhnliche Deismus, welcher Gott neben die Welt wie einen Uhrmacher
neben die Uhr stellt, ist unhaltbar geworden, die Natur trägt nicht den Stempel
des Gemachtem, sondern des sich selbst Entwickelnden, und dem religiösen Ge¬
fühl genügt kein jenseitiger Gott, es will in ihm leben und weben. So will
man, und mit Recht, Eines in Allem und Alles in Einem haben, das Ewige
soll der zeitlichen Entfaltung, das Ideale dem Realen einwohnen; man wen¬
det sich dem Pantheismus zu. In früheren Jahrhunderten hat man die Natur
aus dem Geist erklärt; man sah Geister im Donner und im Sonnenlichte,
im Wachsthum der Pflanzen und im Aufsprudeln des Quells wirken, Intelli¬
genzen schoben den Stern in den himmlischen Sphären. und Attraction oder
Repulsion der Materie war das Ergebniß von Sympathie und Antipathie.
An die Stelle dieser Geister und ihres Fühlens und Wollens sind die Natur¬
gesetze mit ihrer Nothwendigkeit, ist der Mechanismus von Druck und Stoß,
ist die Mannigfaltigkeit der Bewegungsformen der Atome und die Metamor¬
phose der Kraft getreten. Die Natur wird natürlich erklärt. Wer den Gang
der Geschichte kennt, wie sie durch Extreme voranschreitet, der wundert sich
nicht darüber, daß man nicht blos die Methode, sondern auch die Ergebnisse
der Naturforschung auf den Geist und das Ideale anwendet, daß man das
bewußte Seelenleben und seine Entfaltung in Staat. Religion und Kunst
gleichfalls auf den Mechanismus der mit blinder Nothwendigkeit wirkenden phy¬
sikalischen Atome zurückführt und aus bloßem Stoffwechsel und materieller Be¬
wegung hervorgehen läßt. Es ist der entgegengesetzte Uebergriff wie dort: es
ist der Rückschlag der Naturerklärung gegen den Geist, der früher alles Na-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/450>, abgerufen am 01.07.2024.