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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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"Ich kam auf die Füße zu stehen und floh athemlos die Hochstraße hin¬
unter, durch die Weidengasse und wollte eben auf den Brombeerstrauch-Platz
einbiegen, als der Schall mehrerer Stimmen, die mir angstvoll zuriefen, meinem
Weiterrennen Halt gebot.

"Vorsehen, Dummkopf! Die Mine, die Mine!" schrien die warnenden
Stimmen. Mehrere Männer und Knaben standen oben an der Straße und
machten mir wie verrückt durch Geberden verständlich, daß ich etwas vermeiden
sollte. Aber ich sah keine Mine, nur in der Mitte der Straße lag vor .mir
ein gewöhnliches Mehlfaß, welches, als ich einen Blick nach ihm that, plötzlich
mit einem fürchterlichen Krach in die Luft flog. Ich fühlte, wie ich mit heftigem
Nuck hingeschleudert wurde. Sonst erinnere ich mich an nichts weiter, ausge¬
nommen, daß, als ich aufstand, ich für einen Augenblick Esra Wingate, den Be¬
sitzer der verbrannten Postkutsche, gewahr wurde, der wie ein rächender Geist durch
sein Ladenfenster herüberschielte. Die Mine, welche mir wehegethan, war durchaus
keine eigentliche Mine, sondern es waren lediglich ein paar Unzen Pulver, die man
unter eine leere Tonne oder ein Faß gelegt und mit einer Lunte angezündet hatte.
Knaben, welche keine Pistolen oder Kanonen hatten, verbrannten gewöhnlich in
dieser Weise ihr Pulver. Den Bericht über das, was nun folgte, verdanke ich
dem Hörensagen; denn ich war bewußtlos, als die Leute mich aufhoben und
mich auf einem Fensterladen nach Hause trugen, den sie sich vom Besitzer des
Pettingilschen Salons geborgt hatten. Man hielt mich für todt, aber glück¬
licher Weise (glücklicher Weise wenigstens, soweit es mich anging) war ich
blos betäubt. Ich lag in einem halbbewußten Zustande bis acht Uhr an
diesem Abend, wo ich zu sprechen versuchte. Fräulein Abigail, die an der
Seite des Bettes wachte, legte ihr Ohr an meine Lippen und wurde mit fol¬
genden merkwürdigen Worten begrüßt: "Erdbeer und Vanilje dermang!"
"Gnädiger Himmel, was sagt da der Junge?" rief Fräulein Abigail." Nun
das Kapitel "Wie wir die Nivermouther in Staunen versetzten":

"Unter den Veränderungen, die während der letzten zwanzig Jahren in
Nivermouth stattgefunden haben, ist eine, die ich bedauere. Ich beklage die
Wegschaffung aller jener lackirten eisernen Kanonen, die ihren Dienst als Posten
an den Ecken der vom Flusse heraufführenden Straßen zu thun pflegten. Sie
waren ein eigenthümlicher Schmuck. Jede stand aufrecht auf dem Schwanzstück
und hatte eine Vollkugel auf die Mündung gelöthet, wodurch dieser Theil der
Stadt ein gewisses malerisches Aussehen bekam, welches durch die gewöhnlichen
Holzpfosten, durch die sie ersetzt wurden, sehr kümmerlich Vertretung findet.
Diese Kanonen (die Knaben nannten sie "alte Soldaten") hatten, wie Alles
in Nivermouth, ihre Geschichte. Als jener ewige letzte Krieg -- ich meine den
Krieg von 1812--zu Ende ging, hatten alle Schooner, Briggs und Barken,
die in diese," Hafen als Kreuzer ausgerüstet worden waren, es mit dem Los-


„Ich kam auf die Füße zu stehen und floh athemlos die Hochstraße hin¬
unter, durch die Weidengasse und wollte eben auf den Brombeerstrauch-Platz
einbiegen, als der Schall mehrerer Stimmen, die mir angstvoll zuriefen, meinem
Weiterrennen Halt gebot.

„Vorsehen, Dummkopf! Die Mine, die Mine!" schrien die warnenden
Stimmen. Mehrere Männer und Knaben standen oben an der Straße und
machten mir wie verrückt durch Geberden verständlich, daß ich etwas vermeiden
sollte. Aber ich sah keine Mine, nur in der Mitte der Straße lag vor .mir
ein gewöhnliches Mehlfaß, welches, als ich einen Blick nach ihm that, plötzlich
mit einem fürchterlichen Krach in die Luft flog. Ich fühlte, wie ich mit heftigem
Nuck hingeschleudert wurde. Sonst erinnere ich mich an nichts weiter, ausge¬
nommen, daß, als ich aufstand, ich für einen Augenblick Esra Wingate, den Be¬
sitzer der verbrannten Postkutsche, gewahr wurde, der wie ein rächender Geist durch
sein Ladenfenster herüberschielte. Die Mine, welche mir wehegethan, war durchaus
keine eigentliche Mine, sondern es waren lediglich ein paar Unzen Pulver, die man
unter eine leere Tonne oder ein Faß gelegt und mit einer Lunte angezündet hatte.
Knaben, welche keine Pistolen oder Kanonen hatten, verbrannten gewöhnlich in
dieser Weise ihr Pulver. Den Bericht über das, was nun folgte, verdanke ich
dem Hörensagen; denn ich war bewußtlos, als die Leute mich aufhoben und
mich auf einem Fensterladen nach Hause trugen, den sie sich vom Besitzer des
Pettingilschen Salons geborgt hatten. Man hielt mich für todt, aber glück¬
licher Weise (glücklicher Weise wenigstens, soweit es mich anging) war ich
blos betäubt. Ich lag in einem halbbewußten Zustande bis acht Uhr an
diesem Abend, wo ich zu sprechen versuchte. Fräulein Abigail, die an der
Seite des Bettes wachte, legte ihr Ohr an meine Lippen und wurde mit fol¬
genden merkwürdigen Worten begrüßt: „Erdbeer und Vanilje dermang!"
„Gnädiger Himmel, was sagt da der Junge?" rief Fräulein Abigail." Nun
das Kapitel »Wie wir die Nivermouther in Staunen versetzten":

„Unter den Veränderungen, die während der letzten zwanzig Jahren in
Nivermouth stattgefunden haben, ist eine, die ich bedauere. Ich beklage die
Wegschaffung aller jener lackirten eisernen Kanonen, die ihren Dienst als Posten
an den Ecken der vom Flusse heraufführenden Straßen zu thun pflegten. Sie
waren ein eigenthümlicher Schmuck. Jede stand aufrecht auf dem Schwanzstück
und hatte eine Vollkugel auf die Mündung gelöthet, wodurch dieser Theil der
Stadt ein gewisses malerisches Aussehen bekam, welches durch die gewöhnlichen
Holzpfosten, durch die sie ersetzt wurden, sehr kümmerlich Vertretung findet.
Diese Kanonen (die Knaben nannten sie „alte Soldaten") hatten, wie Alles
in Nivermouth, ihre Geschichte. Als jener ewige letzte Krieg — ich meine den
Krieg von 1812--zu Ende ging, hatten alle Schooner, Briggs und Barken,
die in diese,» Hafen als Kreuzer ausgerüstet worden waren, es mit dem Los-


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[0438] „Ich kam auf die Füße zu stehen und floh athemlos die Hochstraße hin¬ unter, durch die Weidengasse und wollte eben auf den Brombeerstrauch-Platz einbiegen, als der Schall mehrerer Stimmen, die mir angstvoll zuriefen, meinem Weiterrennen Halt gebot. „Vorsehen, Dummkopf! Die Mine, die Mine!" schrien die warnenden Stimmen. Mehrere Männer und Knaben standen oben an der Straße und machten mir wie verrückt durch Geberden verständlich, daß ich etwas vermeiden sollte. Aber ich sah keine Mine, nur in der Mitte der Straße lag vor .mir ein gewöhnliches Mehlfaß, welches, als ich einen Blick nach ihm that, plötzlich mit einem fürchterlichen Krach in die Luft flog. Ich fühlte, wie ich mit heftigem Nuck hingeschleudert wurde. Sonst erinnere ich mich an nichts weiter, ausge¬ nommen, daß, als ich aufstand, ich für einen Augenblick Esra Wingate, den Be¬ sitzer der verbrannten Postkutsche, gewahr wurde, der wie ein rächender Geist durch sein Ladenfenster herüberschielte. Die Mine, welche mir wehegethan, war durchaus keine eigentliche Mine, sondern es waren lediglich ein paar Unzen Pulver, die man unter eine leere Tonne oder ein Faß gelegt und mit einer Lunte angezündet hatte. Knaben, welche keine Pistolen oder Kanonen hatten, verbrannten gewöhnlich in dieser Weise ihr Pulver. Den Bericht über das, was nun folgte, verdanke ich dem Hörensagen; denn ich war bewußtlos, als die Leute mich aufhoben und mich auf einem Fensterladen nach Hause trugen, den sie sich vom Besitzer des Pettingilschen Salons geborgt hatten. Man hielt mich für todt, aber glück¬ licher Weise (glücklicher Weise wenigstens, soweit es mich anging) war ich blos betäubt. Ich lag in einem halbbewußten Zustande bis acht Uhr an diesem Abend, wo ich zu sprechen versuchte. Fräulein Abigail, die an der Seite des Bettes wachte, legte ihr Ohr an meine Lippen und wurde mit fol¬ genden merkwürdigen Worten begrüßt: „Erdbeer und Vanilje dermang!" „Gnädiger Himmel, was sagt da der Junge?" rief Fräulein Abigail." Nun das Kapitel »Wie wir die Nivermouther in Staunen versetzten": „Unter den Veränderungen, die während der letzten zwanzig Jahren in Nivermouth stattgefunden haben, ist eine, die ich bedauere. Ich beklage die Wegschaffung aller jener lackirten eisernen Kanonen, die ihren Dienst als Posten an den Ecken der vom Flusse heraufführenden Straßen zu thun pflegten. Sie waren ein eigenthümlicher Schmuck. Jede stand aufrecht auf dem Schwanzstück und hatte eine Vollkugel auf die Mündung gelöthet, wodurch dieser Theil der Stadt ein gewisses malerisches Aussehen bekam, welches durch die gewöhnlichen Holzpfosten, durch die sie ersetzt wurden, sehr kümmerlich Vertretung findet. Diese Kanonen (die Knaben nannten sie „alte Soldaten") hatten, wie Alles in Nivermouth, ihre Geschichte. Als jener ewige letzte Krieg — ich meine den Krieg von 1812--zu Ende ging, hatten alle Schooner, Briggs und Barken, die in diese,» Hafen als Kreuzer ausgerüstet worden waren, es mit dem Los-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/438>, abgerufen am 23.07.2024.