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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Wesen an sich, das ganz allerliebst war. Vier ebenfalls mit Borhängen ver¬
sehene Fenster gingen auf die Nebengasse hinaus und gewährten eine unge¬
hinderte Aussicht auf Maren Hatchs Hinterhof, wo man eine Anzahl uner-
klärbarer Bekleidungsgegenstände auf einer Wäschleine fortwährend im Winde
tanzen sah."

"Es war eben eine Windstille im Eisgeschäft eingetreten, da es Essenszeit
war, und so fanden wir den Salon unbesetzt. Als wir uns um den größten
der mit Marmorplatten versehenen Tische gesetzt hatten, befahl Charley Mar-
ten mit männlicher Stimme zwölf Glas Eis, das Glas zu sechs Pence,
"Erdbeer und Vanilje dermang". Es war ein prachtvoller Anblick, wie diese
zwölf Gläser mit Gefrornem auf einem Servirbrcte hereinkamen und das rothe
und weiße Eis sich von jedem Glase wie ein Kirchthurm erhob und der
Löffelstiel aus der Spitze herausschoß wie die Thurmzier. Ich zweifle, ob je¬
mand, und wenn er den feinsten Gaumen gehabt hätte, im Stande gewesen
wäre, herauszuschmecken, was die Vanille und was das Erdbeereis war; aber
wenn ich in diesem Augenblick ein Glas Eis bekommen könnte, das wie dieses
schmeckte, so wollte ich für ein ganz kleines fünf Dollars geben. Wir machten
uns mit Eifer ans Verspeisen, und unsere Befähigung dazu war so gleich¬
mäßig für alle bemessen, daß wir gleichzeitig mit unserm Eis fertig wurden
und unsere Löffel wie ein einziger Löffel in den Gläsern klirrten."

"Wollen noch etwas mehr haben," schrie Charley Marder mit der Miene
eines Aladdin, der Befehl ertheilt, ein frisches Oxthoft voll Perlen und Ru¬
binen herbeizubringen. "Tom Bcnley, sag' Pettingil, er soll eine zweite Tracht
hereinbringen." Konnte ich meinen Ohren trauen? Ich sah ihn an, um zu
erfahren, ob er es im Ernst meine. Er meinte es im Ernst. Noch einen
Augenblick, und ich lehnte mich über den Ladentisch und gab Anweisung zu
einer zweiten Lieferung. Indem ich meinte, es würde einem solchen großar¬
tigen jungen Sybariten nichts ausmachen, nahm ich mir die Freiheit, dieses
Mal Eis das Glas zu neun Pence zu bestellen."

"Wie groß war mein Entsetzen, als ich in den Salon zurückkehrte und
ihn leer fand. Da waren zwölf wolkige Gläser, die in einem Kreise auf dem
klebrigen Marmor standen, und nicht ein einziger Knabe zu sehen. Ein Paar
Hände, die eben ihren Anhalt am Fensterbret draußen fahren ließen, erklärten
die Sache. Ich war zum Opfer ausgesucht worden. Ich konnte nicht bleiben
und Pettingil. dessen hitziges Temperament unter den Knaben wohl bekannt
war, ins Gesicht sehen. Ich hatte aus der ganzen Welt keinen Cent, um
seineu Grimm zu besänftigen. Was sollte ich thun? Ich hörte das Klingeln
hernnnahender Gläser -- der Gläser für neun Pence. Ich stürzte aus das
nächste Fenster zu. Es war nur fünf Fuß bis zum Erdboden hinab. Ich
warf mich hinaus, als ob ich ein alter Hut gewesen wäre.


Wesen an sich, das ganz allerliebst war. Vier ebenfalls mit Borhängen ver¬
sehene Fenster gingen auf die Nebengasse hinaus und gewährten eine unge¬
hinderte Aussicht auf Maren Hatchs Hinterhof, wo man eine Anzahl uner-
klärbarer Bekleidungsgegenstände auf einer Wäschleine fortwährend im Winde
tanzen sah."

„Es war eben eine Windstille im Eisgeschäft eingetreten, da es Essenszeit
war, und so fanden wir den Salon unbesetzt. Als wir uns um den größten
der mit Marmorplatten versehenen Tische gesetzt hatten, befahl Charley Mar-
ten mit männlicher Stimme zwölf Glas Eis, das Glas zu sechs Pence,
„Erdbeer und Vanilje dermang". Es war ein prachtvoller Anblick, wie diese
zwölf Gläser mit Gefrornem auf einem Servirbrcte hereinkamen und das rothe
und weiße Eis sich von jedem Glase wie ein Kirchthurm erhob und der
Löffelstiel aus der Spitze herausschoß wie die Thurmzier. Ich zweifle, ob je¬
mand, und wenn er den feinsten Gaumen gehabt hätte, im Stande gewesen
wäre, herauszuschmecken, was die Vanille und was das Erdbeereis war; aber
wenn ich in diesem Augenblick ein Glas Eis bekommen könnte, das wie dieses
schmeckte, so wollte ich für ein ganz kleines fünf Dollars geben. Wir machten
uns mit Eifer ans Verspeisen, und unsere Befähigung dazu war so gleich¬
mäßig für alle bemessen, daß wir gleichzeitig mit unserm Eis fertig wurden
und unsere Löffel wie ein einziger Löffel in den Gläsern klirrten."

„Wollen noch etwas mehr haben," schrie Charley Marder mit der Miene
eines Aladdin, der Befehl ertheilt, ein frisches Oxthoft voll Perlen und Ru¬
binen herbeizubringen. „Tom Bcnley, sag' Pettingil, er soll eine zweite Tracht
hereinbringen." Konnte ich meinen Ohren trauen? Ich sah ihn an, um zu
erfahren, ob er es im Ernst meine. Er meinte es im Ernst. Noch einen
Augenblick, und ich lehnte mich über den Ladentisch und gab Anweisung zu
einer zweiten Lieferung. Indem ich meinte, es würde einem solchen großar¬
tigen jungen Sybariten nichts ausmachen, nahm ich mir die Freiheit, dieses
Mal Eis das Glas zu neun Pence zu bestellen."

„Wie groß war mein Entsetzen, als ich in den Salon zurückkehrte und
ihn leer fand. Da waren zwölf wolkige Gläser, die in einem Kreise auf dem
klebrigen Marmor standen, und nicht ein einziger Knabe zu sehen. Ein Paar
Hände, die eben ihren Anhalt am Fensterbret draußen fahren ließen, erklärten
die Sache. Ich war zum Opfer ausgesucht worden. Ich konnte nicht bleiben
und Pettingil. dessen hitziges Temperament unter den Knaben wohl bekannt
war, ins Gesicht sehen. Ich hatte aus der ganzen Welt keinen Cent, um
seineu Grimm zu besänftigen. Was sollte ich thun? Ich hörte das Klingeln
hernnnahender Gläser — der Gläser für neun Pence. Ich stürzte aus das
nächste Fenster zu. Es war nur fünf Fuß bis zum Erdboden hinab. Ich
warf mich hinaus, als ob ich ein alter Hut gewesen wäre.


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[0437] Wesen an sich, das ganz allerliebst war. Vier ebenfalls mit Borhängen ver¬ sehene Fenster gingen auf die Nebengasse hinaus und gewährten eine unge¬ hinderte Aussicht auf Maren Hatchs Hinterhof, wo man eine Anzahl uner- klärbarer Bekleidungsgegenstände auf einer Wäschleine fortwährend im Winde tanzen sah." „Es war eben eine Windstille im Eisgeschäft eingetreten, da es Essenszeit war, und so fanden wir den Salon unbesetzt. Als wir uns um den größten der mit Marmorplatten versehenen Tische gesetzt hatten, befahl Charley Mar- ten mit männlicher Stimme zwölf Glas Eis, das Glas zu sechs Pence, „Erdbeer und Vanilje dermang". Es war ein prachtvoller Anblick, wie diese zwölf Gläser mit Gefrornem auf einem Servirbrcte hereinkamen und das rothe und weiße Eis sich von jedem Glase wie ein Kirchthurm erhob und der Löffelstiel aus der Spitze herausschoß wie die Thurmzier. Ich zweifle, ob je¬ mand, und wenn er den feinsten Gaumen gehabt hätte, im Stande gewesen wäre, herauszuschmecken, was die Vanille und was das Erdbeereis war; aber wenn ich in diesem Augenblick ein Glas Eis bekommen könnte, das wie dieses schmeckte, so wollte ich für ein ganz kleines fünf Dollars geben. Wir machten uns mit Eifer ans Verspeisen, und unsere Befähigung dazu war so gleich¬ mäßig für alle bemessen, daß wir gleichzeitig mit unserm Eis fertig wurden und unsere Löffel wie ein einziger Löffel in den Gläsern klirrten." „Wollen noch etwas mehr haben," schrie Charley Marder mit der Miene eines Aladdin, der Befehl ertheilt, ein frisches Oxthoft voll Perlen und Ru¬ binen herbeizubringen. „Tom Bcnley, sag' Pettingil, er soll eine zweite Tracht hereinbringen." Konnte ich meinen Ohren trauen? Ich sah ihn an, um zu erfahren, ob er es im Ernst meine. Er meinte es im Ernst. Noch einen Augenblick, und ich lehnte mich über den Ladentisch und gab Anweisung zu einer zweiten Lieferung. Indem ich meinte, es würde einem solchen großar¬ tigen jungen Sybariten nichts ausmachen, nahm ich mir die Freiheit, dieses Mal Eis das Glas zu neun Pence zu bestellen." „Wie groß war mein Entsetzen, als ich in den Salon zurückkehrte und ihn leer fand. Da waren zwölf wolkige Gläser, die in einem Kreise auf dem klebrigen Marmor standen, und nicht ein einziger Knabe zu sehen. Ein Paar Hände, die eben ihren Anhalt am Fensterbret draußen fahren ließen, erklärten die Sache. Ich war zum Opfer ausgesucht worden. Ich konnte nicht bleiben und Pettingil. dessen hitziges Temperament unter den Knaben wohl bekannt war, ins Gesicht sehen. Ich hatte aus der ganzen Welt keinen Cent, um seineu Grimm zu besänftigen. Was sollte ich thun? Ich hörte das Klingeln hernnnahender Gläser — der Gläser für neun Pence. Ich stürzte aus das nächste Fenster zu. Es war nur fünf Fuß bis zum Erdboden hinab. Ich warf mich hinaus, als ob ich ein alter Hut gewesen wäre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/437>, abgerufen am 23.07.2024.