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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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nicht mehr als eine frische Orange einer ausgesogenen gleicht". Beide Dichter
sind weit entfernt davon, dem jungen lebenslustigen Knabenvolk die Moral
des halben Katechismus anzukränkeln. Sie folgen im Guten, das sie thun,
der untrüglichen Stimme unverdorbener Naturen und im "Bösen", in ihren
leichtsinnigen Streichen, in ihrem Ungehorsam gegen die Gebote der Pflicht
in Haus und Schule wieder derselben unverdorbenen Natur, deren Kraftge¬
fühl und Vergnügungsbedürfniß über den Rand enger Gefäße leicht und gerne
überschauend. --

Insoweit sind die natürlichen Buben sich gleich in Amerika und Deutsch¬
land, bei Reichenau und Aldrich. Viele Motive sind bis auf die Worte und
Wendungen in beiden Schriftstellern so verwandt, daß man glauben könnte,
der Amerikaner habe das ältere deutsche Vorbild nicht blos gekannt, sondern
auch benutzt; und doch ist das sicher nicht der Fall gewesen. Wir Wähler-
einige Beispiele zur Erhärtung dieser Behauptung, wie sie uns grade, nach
wiederholter frischer Lectüre beider Schriften im Gedächtniß haften.

Da schildert Reichenau in seinem zweiten Bändchen ("Knaben und Mäd¬
chen", im 7. Kapitel) die kindliche Formlosigkeit im Schließen von'Bekannt¬
schaften in folgender köstlichen Weise: "Ein kleiner Fremdling, bei den Nach¬
barn zum Besuch, hielt es für überflüssig, zu geselliger Anknüpfung mit un¬
srem Hause sich melden zu lassen oder seine Karte vorauszuschicken. Mit
Verschmähung aller Weitläufigkeiten, wie der Apfel sich vom Zweige löst,
purzelte er graden Weges vom Zaune herunter, stand schnell auf. sah etwas
verblüfft aus, überzeugte sich, ob seine hellen Kleider auch die vorschrifts¬
mäßige grasgrüne Signatur erhalten hatten, rieb die Stelle, die am här¬
testen aufgeschlagen und mischte sich sofort unter unsre fröhlich spielenden
Kleinen, in deren Kreis er mitten hineingeplumpt war, wie der Zucker in
den Sonntagskaffee. -- Eine ungezwungenere Art, sich in Gesellschaft
einzuführen, ist doch kaum möglich"! Und Aldrich sagt: "Sobald ein neuer
Schüler in unsre Schule kam, pflegte ich ihm in der Freiviertelstunde mit
den folgenden Worten gegenüberzutreten: "Ich heiße Tom Bailey, wie heißest
Du?" Berührte der Name mich günstig, so schüttelte ich dem neuen Zögling
herzlich die Hände, war das nicht der Fall, so pflegte ich mich auf dem Ab¬
satz herumzudrehen; denn ich war eigen in diesem Punkte." -- Auch in Be¬
zug auf Rauflust scheinen unsre deutschen Jungen, trotz des neuenglischen
Nationalsport des Boxens, den amerikanischen nicht nachzustehen, wenn man
Reichenau's Kapitel "Gleicher Stärke" mit Aldrich's: "Ich haue mich mit
Conway" vergleicht. "Es ist nicht anders", sagt Reichenau. "Wie die Mäd¬
chen nicht müde werden, Hausfrau und Mutter zu spielen und beim Kommen
und Gehen nicht leicht unterlassen, sich zärtlich zu küssen, so gipfelt die Knaben¬
lust am liebsten in lärmenden kraftprobenden Kampfspielen." -- "Was macht


nicht mehr als eine frische Orange einer ausgesogenen gleicht". Beide Dichter
sind weit entfernt davon, dem jungen lebenslustigen Knabenvolk die Moral
des halben Katechismus anzukränkeln. Sie folgen im Guten, das sie thun,
der untrüglichen Stimme unverdorbener Naturen und im „Bösen", in ihren
leichtsinnigen Streichen, in ihrem Ungehorsam gegen die Gebote der Pflicht
in Haus und Schule wieder derselben unverdorbenen Natur, deren Kraftge¬
fühl und Vergnügungsbedürfniß über den Rand enger Gefäße leicht und gerne
überschauend. —

Insoweit sind die natürlichen Buben sich gleich in Amerika und Deutsch¬
land, bei Reichenau und Aldrich. Viele Motive sind bis auf die Worte und
Wendungen in beiden Schriftstellern so verwandt, daß man glauben könnte,
der Amerikaner habe das ältere deutsche Vorbild nicht blos gekannt, sondern
auch benutzt; und doch ist das sicher nicht der Fall gewesen. Wir Wähler-
einige Beispiele zur Erhärtung dieser Behauptung, wie sie uns grade, nach
wiederholter frischer Lectüre beider Schriften im Gedächtniß haften.

Da schildert Reichenau in seinem zweiten Bändchen („Knaben und Mäd¬
chen", im 7. Kapitel) die kindliche Formlosigkeit im Schließen von'Bekannt¬
schaften in folgender köstlichen Weise: „Ein kleiner Fremdling, bei den Nach¬
barn zum Besuch, hielt es für überflüssig, zu geselliger Anknüpfung mit un¬
srem Hause sich melden zu lassen oder seine Karte vorauszuschicken. Mit
Verschmähung aller Weitläufigkeiten, wie der Apfel sich vom Zweige löst,
purzelte er graden Weges vom Zaune herunter, stand schnell auf. sah etwas
verblüfft aus, überzeugte sich, ob seine hellen Kleider auch die vorschrifts¬
mäßige grasgrüne Signatur erhalten hatten, rieb die Stelle, die am här¬
testen aufgeschlagen und mischte sich sofort unter unsre fröhlich spielenden
Kleinen, in deren Kreis er mitten hineingeplumpt war, wie der Zucker in
den Sonntagskaffee. — Eine ungezwungenere Art, sich in Gesellschaft
einzuführen, ist doch kaum möglich"! Und Aldrich sagt: „Sobald ein neuer
Schüler in unsre Schule kam, pflegte ich ihm in der Freiviertelstunde mit
den folgenden Worten gegenüberzutreten: „Ich heiße Tom Bailey, wie heißest
Du?" Berührte der Name mich günstig, so schüttelte ich dem neuen Zögling
herzlich die Hände, war das nicht der Fall, so pflegte ich mich auf dem Ab¬
satz herumzudrehen; denn ich war eigen in diesem Punkte." — Auch in Be¬
zug auf Rauflust scheinen unsre deutschen Jungen, trotz des neuenglischen
Nationalsport des Boxens, den amerikanischen nicht nachzustehen, wenn man
Reichenau's Kapitel „Gleicher Stärke" mit Aldrich's: „Ich haue mich mit
Conway" vergleicht. „Es ist nicht anders", sagt Reichenau. „Wie die Mäd¬
chen nicht müde werden, Hausfrau und Mutter zu spielen und beim Kommen
und Gehen nicht leicht unterlassen, sich zärtlich zu küssen, so gipfelt die Knaben¬
lust am liebsten in lärmenden kraftprobenden Kampfspielen." — „Was macht


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[0430] nicht mehr als eine frische Orange einer ausgesogenen gleicht". Beide Dichter sind weit entfernt davon, dem jungen lebenslustigen Knabenvolk die Moral des halben Katechismus anzukränkeln. Sie folgen im Guten, das sie thun, der untrüglichen Stimme unverdorbener Naturen und im „Bösen", in ihren leichtsinnigen Streichen, in ihrem Ungehorsam gegen die Gebote der Pflicht in Haus und Schule wieder derselben unverdorbenen Natur, deren Kraftge¬ fühl und Vergnügungsbedürfniß über den Rand enger Gefäße leicht und gerne überschauend. — Insoweit sind die natürlichen Buben sich gleich in Amerika und Deutsch¬ land, bei Reichenau und Aldrich. Viele Motive sind bis auf die Worte und Wendungen in beiden Schriftstellern so verwandt, daß man glauben könnte, der Amerikaner habe das ältere deutsche Vorbild nicht blos gekannt, sondern auch benutzt; und doch ist das sicher nicht der Fall gewesen. Wir Wähler- einige Beispiele zur Erhärtung dieser Behauptung, wie sie uns grade, nach wiederholter frischer Lectüre beider Schriften im Gedächtniß haften. Da schildert Reichenau in seinem zweiten Bändchen („Knaben und Mäd¬ chen", im 7. Kapitel) die kindliche Formlosigkeit im Schließen von'Bekannt¬ schaften in folgender köstlichen Weise: „Ein kleiner Fremdling, bei den Nach¬ barn zum Besuch, hielt es für überflüssig, zu geselliger Anknüpfung mit un¬ srem Hause sich melden zu lassen oder seine Karte vorauszuschicken. Mit Verschmähung aller Weitläufigkeiten, wie der Apfel sich vom Zweige löst, purzelte er graden Weges vom Zaune herunter, stand schnell auf. sah etwas verblüfft aus, überzeugte sich, ob seine hellen Kleider auch die vorschrifts¬ mäßige grasgrüne Signatur erhalten hatten, rieb die Stelle, die am här¬ testen aufgeschlagen und mischte sich sofort unter unsre fröhlich spielenden Kleinen, in deren Kreis er mitten hineingeplumpt war, wie der Zucker in den Sonntagskaffee. — Eine ungezwungenere Art, sich in Gesellschaft einzuführen, ist doch kaum möglich"! Und Aldrich sagt: „Sobald ein neuer Schüler in unsre Schule kam, pflegte ich ihm in der Freiviertelstunde mit den folgenden Worten gegenüberzutreten: „Ich heiße Tom Bailey, wie heißest Du?" Berührte der Name mich günstig, so schüttelte ich dem neuen Zögling herzlich die Hände, war das nicht der Fall, so pflegte ich mich auf dem Ab¬ satz herumzudrehen; denn ich war eigen in diesem Punkte." — Auch in Be¬ zug auf Rauflust scheinen unsre deutschen Jungen, trotz des neuenglischen Nationalsport des Boxens, den amerikanischen nicht nachzustehen, wenn man Reichenau's Kapitel „Gleicher Stärke" mit Aldrich's: „Ich haue mich mit Conway" vergleicht. „Es ist nicht anders", sagt Reichenau. „Wie die Mäd¬ chen nicht müde werden, Hausfrau und Mutter zu spielen und beim Kommen und Gehen nicht leicht unterlassen, sich zärtlich zu küssen, so gipfelt die Knaben¬ lust am liebsten in lärmenden kraftprobenden Kampfspielen." — „Was macht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/430>, abgerufen am 25.08.2024.