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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Die politische Geschichte der Zeit Luther's ist nur sehr kurz behandelt,
offenbar in Anlehnung an andere Bücher, ohne eigene Studien. Bei der
heutigen Lage der Dinge, bet der üblichen Arbeitstheilung mag es begreiflich
sein, daß der Theologe diese Studien unterlassen; billigen kann man dies nicht.
Auf einzelne Versehen oder Fehlgriffe lege ich nicht besonderes Gewicht; aber
. das ganze Urtheil verräth doch diese Einbuße empfindlich. Bei der Erörterung
über Luther's Verhalten zum Bauernkrieg wird Jeder dies gewahr werden.
Ferner, die Beziehungen Luther's zum kursächsischen Particularismus und.zu
den kursächsischen Sonderinteressen müssen noch ganz anders ans Licht gezogen
werden. Es ist z. B. nicht genug, das Schimpfen Luther's gegen den Herzog
Moritz von Sachsen 1542 zu berichten; man muß hinzufügen, daß Moritz
damals im Rechte war und daß Luther's sittliche Entrüstung sich an die falsche
Adresse gerichtet hat. Es darf den Historiker keine Verehrung und keine
Rücksicht hindern, mit dürren Worten auszusprechen, daß politische Einsicht
und Urtheil wohl die schwächste Seite bei Luther und den meisten seiner refor¬
matorischen "Amtsbruder" gewesen. '

Die Früchte der Reformation, die protestantischen Landeskirchen charak-
terisirt und kritisirt Kostim mit einem recht unbefangenen Urtheil. Seine
Nüchternheit und sein Verständniß kirchlicher Wirklichkeiten zeichnet seine Dar¬
legung vortheilhaft aus vor der Betrachtung dieser Dinge durch Lang*), so
großen Beifall der Letztere auch bei Nichttheologen gefunden. Es liegt auf
der Hand, daß Kostim in dieser Beziehung von den Erlebnissen unserer Gegen¬
wart gelernt hat. Die heutigen Bewegungen und Bemühungen kirchlicher
Kreise, welche sich abmühen, heute die protestantische Kirchenverfassung zu
schaffen, die einst Luther nicht geschaffen und heute auf der Basis der Lutheri¬
schen Ideen das Gebäude zu errichten, das Luther nicht zu Stande gebracht,
-- alle diese Erfahrungen und Kämpfe der Gegenwart, bei denen bekanntlich
auch Kostim selbst als Mitarbeiter thätig ist, haben für seine wissenschaftliche
Arbeit über Luther ihm den Blick geschärft und die Unbefangenheit seines
Urtheiles erhöht, -- ein Resultat, zu dem wir uns aufrichtig Glück wünschen
dürfen.

Ueberhaupt liegt hier ein Buch vor, das man trotz seiner theologischen
Einseitigkeiten der Beachtung und der Lektüre weiterer Kreise empfehlen muß.
Es ist noch nicht das Leben Luther's, das unsere Nation von ihren Ncfor-
mationshistorikern erwarten und fordern darf; -- ich zweifele, ob dies wahr¬
haft historische und deßhalb auch wahrhaft nationale Leben Luther's von
einem Theologen geschrieben werden wird oder geschrieben werden kann; aber



") Lang: Martin Luther, ein religiöses Charakterbild 1870. Vgl. meine Kritik in der
Histor. Zeitschrift XXVII. 12" --130, und in den Studien und Skizzen S. 2!N -- 2:!S.

Die politische Geschichte der Zeit Luther's ist nur sehr kurz behandelt,
offenbar in Anlehnung an andere Bücher, ohne eigene Studien. Bei der
heutigen Lage der Dinge, bet der üblichen Arbeitstheilung mag es begreiflich
sein, daß der Theologe diese Studien unterlassen; billigen kann man dies nicht.
Auf einzelne Versehen oder Fehlgriffe lege ich nicht besonderes Gewicht; aber
. das ganze Urtheil verräth doch diese Einbuße empfindlich. Bei der Erörterung
über Luther's Verhalten zum Bauernkrieg wird Jeder dies gewahr werden.
Ferner, die Beziehungen Luther's zum kursächsischen Particularismus und.zu
den kursächsischen Sonderinteressen müssen noch ganz anders ans Licht gezogen
werden. Es ist z. B. nicht genug, das Schimpfen Luther's gegen den Herzog
Moritz von Sachsen 1542 zu berichten; man muß hinzufügen, daß Moritz
damals im Rechte war und daß Luther's sittliche Entrüstung sich an die falsche
Adresse gerichtet hat. Es darf den Historiker keine Verehrung und keine
Rücksicht hindern, mit dürren Worten auszusprechen, daß politische Einsicht
und Urtheil wohl die schwächste Seite bei Luther und den meisten seiner refor¬
matorischen „Amtsbruder" gewesen. '

Die Früchte der Reformation, die protestantischen Landeskirchen charak-
terisirt und kritisirt Kostim mit einem recht unbefangenen Urtheil. Seine
Nüchternheit und sein Verständniß kirchlicher Wirklichkeiten zeichnet seine Dar¬
legung vortheilhaft aus vor der Betrachtung dieser Dinge durch Lang*), so
großen Beifall der Letztere auch bei Nichttheologen gefunden. Es liegt auf
der Hand, daß Kostim in dieser Beziehung von den Erlebnissen unserer Gegen¬
wart gelernt hat. Die heutigen Bewegungen und Bemühungen kirchlicher
Kreise, welche sich abmühen, heute die protestantische Kirchenverfassung zu
schaffen, die einst Luther nicht geschaffen und heute auf der Basis der Lutheri¬
schen Ideen das Gebäude zu errichten, das Luther nicht zu Stande gebracht,
— alle diese Erfahrungen und Kämpfe der Gegenwart, bei denen bekanntlich
auch Kostim selbst als Mitarbeiter thätig ist, haben für seine wissenschaftliche
Arbeit über Luther ihm den Blick geschärft und die Unbefangenheit seines
Urtheiles erhöht, — ein Resultat, zu dem wir uns aufrichtig Glück wünschen
dürfen.

Ueberhaupt liegt hier ein Buch vor, das man trotz seiner theologischen
Einseitigkeiten der Beachtung und der Lektüre weiterer Kreise empfehlen muß.
Es ist noch nicht das Leben Luther's, das unsere Nation von ihren Ncfor-
mationshistorikern erwarten und fordern darf; — ich zweifele, ob dies wahr¬
haft historische und deßhalb auch wahrhaft nationale Leben Luther's von
einem Theologen geschrieben werden wird oder geschrieben werden kann; aber



") Lang: Martin Luther, ein religiöses Charakterbild 1870. Vgl. meine Kritik in der
Histor. Zeitschrift XXVII. 12« —130, und in den Studien und Skizzen S. 2!N — 2:!S.
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[0416] Die politische Geschichte der Zeit Luther's ist nur sehr kurz behandelt, offenbar in Anlehnung an andere Bücher, ohne eigene Studien. Bei der heutigen Lage der Dinge, bet der üblichen Arbeitstheilung mag es begreiflich sein, daß der Theologe diese Studien unterlassen; billigen kann man dies nicht. Auf einzelne Versehen oder Fehlgriffe lege ich nicht besonderes Gewicht; aber . das ganze Urtheil verräth doch diese Einbuße empfindlich. Bei der Erörterung über Luther's Verhalten zum Bauernkrieg wird Jeder dies gewahr werden. Ferner, die Beziehungen Luther's zum kursächsischen Particularismus und.zu den kursächsischen Sonderinteressen müssen noch ganz anders ans Licht gezogen werden. Es ist z. B. nicht genug, das Schimpfen Luther's gegen den Herzog Moritz von Sachsen 1542 zu berichten; man muß hinzufügen, daß Moritz damals im Rechte war und daß Luther's sittliche Entrüstung sich an die falsche Adresse gerichtet hat. Es darf den Historiker keine Verehrung und keine Rücksicht hindern, mit dürren Worten auszusprechen, daß politische Einsicht und Urtheil wohl die schwächste Seite bei Luther und den meisten seiner refor¬ matorischen „Amtsbruder" gewesen. ' Die Früchte der Reformation, die protestantischen Landeskirchen charak- terisirt und kritisirt Kostim mit einem recht unbefangenen Urtheil. Seine Nüchternheit und sein Verständniß kirchlicher Wirklichkeiten zeichnet seine Dar¬ legung vortheilhaft aus vor der Betrachtung dieser Dinge durch Lang*), so großen Beifall der Letztere auch bei Nichttheologen gefunden. Es liegt auf der Hand, daß Kostim in dieser Beziehung von den Erlebnissen unserer Gegen¬ wart gelernt hat. Die heutigen Bewegungen und Bemühungen kirchlicher Kreise, welche sich abmühen, heute die protestantische Kirchenverfassung zu schaffen, die einst Luther nicht geschaffen und heute auf der Basis der Lutheri¬ schen Ideen das Gebäude zu errichten, das Luther nicht zu Stande gebracht, — alle diese Erfahrungen und Kämpfe der Gegenwart, bei denen bekanntlich auch Kostim selbst als Mitarbeiter thätig ist, haben für seine wissenschaftliche Arbeit über Luther ihm den Blick geschärft und die Unbefangenheit seines Urtheiles erhöht, — ein Resultat, zu dem wir uns aufrichtig Glück wünschen dürfen. Ueberhaupt liegt hier ein Buch vor, das man trotz seiner theologischen Einseitigkeiten der Beachtung und der Lektüre weiterer Kreise empfehlen muß. Es ist noch nicht das Leben Luther's, das unsere Nation von ihren Ncfor- mationshistorikern erwarten und fordern darf; — ich zweifele, ob dies wahr¬ haft historische und deßhalb auch wahrhaft nationale Leben Luther's von einem Theologen geschrieben werden wird oder geschrieben werden kann; aber ") Lang: Martin Luther, ein religiöses Charakterbild 1870. Vgl. meine Kritik in der Histor. Zeitschrift XXVII. 12« —130, und in den Studien und Skizzen S. 2!N — 2:!S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/416>, abgerufen am 03.07.2024.