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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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volutionär in Luther hört man hier wenig: der Radikalismus Luther's Wider
die hergebrachte Kirche des Mittelalters tritt nur in schüchternen Andeutungen
zu Tage. Wie zahm ist unser Held hier in der Leipziger Disputation darge¬
stellt! wie friedlich sind seine leidenschaftlichen Aeußerungen nach Leipzig hier
heruntergestimmt und abgeschwächt! Der Vulkan, der in diesem revolutio¬
nären Mönche gekocht und getobt und die deutsche Nation in ihren innersten
Tiefen erschüttert und aufgewühlt, -- zu einem zeitweise einmal etwas leb¬
hafter brennenden, bald aber zu hergebrachter Leuchtkraft und Wärme sich er¬
mäßigenden und mild flackernden Kirchenlichte ist er geworden!

Eine Reihe einzelner Punkte hat Kostim sich bestrebt durch kritische
Untersuchung zu ergründen. Er folgt nicht ohne weiteres der üblichen Tra¬
dition. So hat er wiederholt die Angaben über Luther's Geburtsjahr discutirt
und eine chronologisch sichere Basis seines Lebenslaufes herzustellen sich be¬
müht. An anderen Stellen läßt er seine Bedenken gegen bisherige Erzäh¬
lungsweisen durchscheinen. Freilich, die methodische Kritik der "Tischreden"
als Quellen der autobiographischen Ueberlieferung Luther's, die man zunächst
wünschen mußte, hat K. noch nicht geliefert; jedoch ruht das, was er von
Luther bis 1517 erzählt, auf einer verhältnißmäßig besseren Grundlage als
das was sonst gesagt zu werden pflegt. Der Abschnitt über Luther's Nom¬
reise ist im Ganzen vorsichtig, mit Vorbehalten redigirt; zu der radikalen
Verwerfung aber aller späteren gefärbten Aussagen, die hier wohl von einer
methodischen Quellenkritik allein angerathen werden dürfte, hat er sich nicht
entschlossen. Auch den immerhin scharfsinnigen Versuch, den er in einer be¬
sonderen Abhandlung zu begründen unternommen*), die in der Tradition so
bekannt gewordenen Schlußworte Luther's auf dem Wormser Reichstag gegen
die Einwendungen der Kritik zu retten und zu schützen, kann ich nicht für
gelungen erachten. Jedoch es ist nicht dieses Ortes auf derartige Einzelheiten
weitläufig einzugehen; und die Werthschätzung eines Buches hängt nicht davon
ab, ob gegen einzelne Sätze desselben polemische Einreden erhoben werden können.

Wie die Auffassung Luther's bei Kostim einer mittleren und ausglei¬
chenden Richtung des Autors entsprungen, so ist auch für seine Kritik charak¬
teristisch dieser selbe Zug, der zwischen Gegensätzen und Widersprüchen zu
vermitteln sich vorsetzt. Man sieht es überall, Kostim kennt sehr wohl die
Punkte, auf die sich Abweichungen von seiner Ansicht berufen und stützen
können; da ist es seine Art durch theilweises Entgegenkommen und halbe
Zugeständnisse dem Widerspruche vorzubeugen und zu begegnen. Ein durch¬
aus einheitliches Gesammtbild kommt freilich dabei nicht recht zu Stande;



') Luther's Rede in Worms am Is. April 1521. Osterprogramm der Universität Halle.
Wittenberg. 1"74.

volutionär in Luther hört man hier wenig: der Radikalismus Luther's Wider
die hergebrachte Kirche des Mittelalters tritt nur in schüchternen Andeutungen
zu Tage. Wie zahm ist unser Held hier in der Leipziger Disputation darge¬
stellt! wie friedlich sind seine leidenschaftlichen Aeußerungen nach Leipzig hier
heruntergestimmt und abgeschwächt! Der Vulkan, der in diesem revolutio¬
nären Mönche gekocht und getobt und die deutsche Nation in ihren innersten
Tiefen erschüttert und aufgewühlt, — zu einem zeitweise einmal etwas leb¬
hafter brennenden, bald aber zu hergebrachter Leuchtkraft und Wärme sich er¬
mäßigenden und mild flackernden Kirchenlichte ist er geworden!

Eine Reihe einzelner Punkte hat Kostim sich bestrebt durch kritische
Untersuchung zu ergründen. Er folgt nicht ohne weiteres der üblichen Tra¬
dition. So hat er wiederholt die Angaben über Luther's Geburtsjahr discutirt
und eine chronologisch sichere Basis seines Lebenslaufes herzustellen sich be¬
müht. An anderen Stellen läßt er seine Bedenken gegen bisherige Erzäh¬
lungsweisen durchscheinen. Freilich, die methodische Kritik der „Tischreden"
als Quellen der autobiographischen Ueberlieferung Luther's, die man zunächst
wünschen mußte, hat K. noch nicht geliefert; jedoch ruht das, was er von
Luther bis 1517 erzählt, auf einer verhältnißmäßig besseren Grundlage als
das was sonst gesagt zu werden pflegt. Der Abschnitt über Luther's Nom¬
reise ist im Ganzen vorsichtig, mit Vorbehalten redigirt; zu der radikalen
Verwerfung aber aller späteren gefärbten Aussagen, die hier wohl von einer
methodischen Quellenkritik allein angerathen werden dürfte, hat er sich nicht
entschlossen. Auch den immerhin scharfsinnigen Versuch, den er in einer be¬
sonderen Abhandlung zu begründen unternommen*), die in der Tradition so
bekannt gewordenen Schlußworte Luther's auf dem Wormser Reichstag gegen
die Einwendungen der Kritik zu retten und zu schützen, kann ich nicht für
gelungen erachten. Jedoch es ist nicht dieses Ortes auf derartige Einzelheiten
weitläufig einzugehen; und die Werthschätzung eines Buches hängt nicht davon
ab, ob gegen einzelne Sätze desselben polemische Einreden erhoben werden können.

Wie die Auffassung Luther's bei Kostim einer mittleren und ausglei¬
chenden Richtung des Autors entsprungen, so ist auch für seine Kritik charak¬
teristisch dieser selbe Zug, der zwischen Gegensätzen und Widersprüchen zu
vermitteln sich vorsetzt. Man sieht es überall, Kostim kennt sehr wohl die
Punkte, auf die sich Abweichungen von seiner Ansicht berufen und stützen
können; da ist es seine Art durch theilweises Entgegenkommen und halbe
Zugeständnisse dem Widerspruche vorzubeugen und zu begegnen. Ein durch¬
aus einheitliches Gesammtbild kommt freilich dabei nicht recht zu Stande;



') Luther's Rede in Worms am Is. April 1521. Osterprogramm der Universität Halle.
Wittenberg. 1«74.
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[0414] volutionär in Luther hört man hier wenig: der Radikalismus Luther's Wider die hergebrachte Kirche des Mittelalters tritt nur in schüchternen Andeutungen zu Tage. Wie zahm ist unser Held hier in der Leipziger Disputation darge¬ stellt! wie friedlich sind seine leidenschaftlichen Aeußerungen nach Leipzig hier heruntergestimmt und abgeschwächt! Der Vulkan, der in diesem revolutio¬ nären Mönche gekocht und getobt und die deutsche Nation in ihren innersten Tiefen erschüttert und aufgewühlt, — zu einem zeitweise einmal etwas leb¬ hafter brennenden, bald aber zu hergebrachter Leuchtkraft und Wärme sich er¬ mäßigenden und mild flackernden Kirchenlichte ist er geworden! Eine Reihe einzelner Punkte hat Kostim sich bestrebt durch kritische Untersuchung zu ergründen. Er folgt nicht ohne weiteres der üblichen Tra¬ dition. So hat er wiederholt die Angaben über Luther's Geburtsjahr discutirt und eine chronologisch sichere Basis seines Lebenslaufes herzustellen sich be¬ müht. An anderen Stellen läßt er seine Bedenken gegen bisherige Erzäh¬ lungsweisen durchscheinen. Freilich, die methodische Kritik der „Tischreden" als Quellen der autobiographischen Ueberlieferung Luther's, die man zunächst wünschen mußte, hat K. noch nicht geliefert; jedoch ruht das, was er von Luther bis 1517 erzählt, auf einer verhältnißmäßig besseren Grundlage als das was sonst gesagt zu werden pflegt. Der Abschnitt über Luther's Nom¬ reise ist im Ganzen vorsichtig, mit Vorbehalten redigirt; zu der radikalen Verwerfung aber aller späteren gefärbten Aussagen, die hier wohl von einer methodischen Quellenkritik allein angerathen werden dürfte, hat er sich nicht entschlossen. Auch den immerhin scharfsinnigen Versuch, den er in einer be¬ sonderen Abhandlung zu begründen unternommen*), die in der Tradition so bekannt gewordenen Schlußworte Luther's auf dem Wormser Reichstag gegen die Einwendungen der Kritik zu retten und zu schützen, kann ich nicht für gelungen erachten. Jedoch es ist nicht dieses Ortes auf derartige Einzelheiten weitläufig einzugehen; und die Werthschätzung eines Buches hängt nicht davon ab, ob gegen einzelne Sätze desselben polemische Einreden erhoben werden können. Wie die Auffassung Luther's bei Kostim einer mittleren und ausglei¬ chenden Richtung des Autors entsprungen, so ist auch für seine Kritik charak¬ teristisch dieser selbe Zug, der zwischen Gegensätzen und Widersprüchen zu vermitteln sich vorsetzt. Man sieht es überall, Kostim kennt sehr wohl die Punkte, auf die sich Abweichungen von seiner Ansicht berufen und stützen können; da ist es seine Art durch theilweises Entgegenkommen und halbe Zugeständnisse dem Widerspruche vorzubeugen und zu begegnen. Ein durch¬ aus einheitliches Gesammtbild kommt freilich dabei nicht recht zu Stande; ') Luther's Rede in Worms am Is. April 1521. Osterprogramm der Universität Halle. Wittenberg. 1«74.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/414>, abgerufen am 23.07.2024.