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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Ire ländlichen Arbeiter und die Agrarfrage in Krosz-
britannien.
Von Max Wirth. I.

Die Agrarfrage hat in der neuen Zeit an jener Bedeutung verloren,
welche sie im Alterthume und im Mittelalter gehabt hat, weil durch die gro߬
artige Entwicklung der Industrie, der Schifffahrt und der Colonisatio?l in
Amerika und Australien der Expansion der Bevölkerung unermeßliche neue
Gebiete eröffnet wurden und es von Jahr zu Jahr leichter wird nach Un¬
glücksfällen des Lebens neue Laufbahnen zu ergreifen. Gleichwohl zeigt die
in unsern Tagen vollstreckte große Reform in Rußland, wodurch 20 Millionen
Leibeigene in freie, bäuerliche Grundeigenthümer umgewandelt wurden, daß
sie immer noch ein gewichtiger Factor im Völkerleben geblieben ist.

Als einst Gervinus in den Neactionsjahren wegen seiner Prophezeiung
über den künftigen Sieg der Demokratie im letzten Jahrzehnt unseres Jahr¬
hunderts, durch welche Bismarck ein Viertel-Jahrhundert vorher einen Strich
gemacht hat, vor dem Gericht zu Mannheim Rede stehen mußte, machte er
auf die geschichtliche Entwicklung aufmerksam, in welcher die Herrschaft all-
mälig von den Wenigen zu den Vielen übergeht und fügte bei, daß drei
Männern die Ehre dieses Gedankens zukomme, Aristoteles, Hegel und ihm.
Wir konnten zwar nicht begreifen, welche Ehre Hegel und Gervinus deshalb
zukomme, daß sie einen Ausspruch des Aristoteles wiederholten, wir knüpfen
aber daran an, weil Aristoteles sich wahrscheinlich in gleicher Lage befand,
weil seine nachhaltige Bedeutung für die Jetztzeit, welche die aller übrigen
Weisen des Alterthums übertrifft, darin bestand, daß er der Codificator alles
bewährten Wissens seiner Zeit war, welches seinerseits ja auch wieder aus
den Ideen der hervorragendsten Denker der vorher verflossenen Jahrtausende
zusammengetragen war. Darin liegt ja auch die Überlegenheit der uns über¬
kommenen Werke des Aristoteles über die Plato's, daß dieser mehr seine
eigenen Wege wandelt, während der Erstere sich die ganze Cultur des Alter¬
thums assimilirte und als wahrer Bildungsträger der Gedankensolidarität der
Menschheit, unserer Zeit vermachte. Aus diesem Grunde haben Aussprüche
des Aristoteles stets das Gewicht von erprobten Erfahrungen, ja von Lehr¬
sätzen. Ein solcher Satz ist der Ausspruch des Lehrers des großen Alexander
daß die besten Zustände die mittleren seien. Dieser Satz findet seine volle,
Anwendung auch noch in unserer Zeit und namentlich bei der Frage, welcher
Umfang des Grundeigenthums für die Entwicklung der Staaten am zuträg¬
lichsten ist.


Ire ländlichen Arbeiter und die Agrarfrage in Krosz-
britannien.
Von Max Wirth. I.

Die Agrarfrage hat in der neuen Zeit an jener Bedeutung verloren,
welche sie im Alterthume und im Mittelalter gehabt hat, weil durch die gro߬
artige Entwicklung der Industrie, der Schifffahrt und der Colonisatio?l in
Amerika und Australien der Expansion der Bevölkerung unermeßliche neue
Gebiete eröffnet wurden und es von Jahr zu Jahr leichter wird nach Un¬
glücksfällen des Lebens neue Laufbahnen zu ergreifen. Gleichwohl zeigt die
in unsern Tagen vollstreckte große Reform in Rußland, wodurch 20 Millionen
Leibeigene in freie, bäuerliche Grundeigenthümer umgewandelt wurden, daß
sie immer noch ein gewichtiger Factor im Völkerleben geblieben ist.

Als einst Gervinus in den Neactionsjahren wegen seiner Prophezeiung
über den künftigen Sieg der Demokratie im letzten Jahrzehnt unseres Jahr¬
hunderts, durch welche Bismarck ein Viertel-Jahrhundert vorher einen Strich
gemacht hat, vor dem Gericht zu Mannheim Rede stehen mußte, machte er
auf die geschichtliche Entwicklung aufmerksam, in welcher die Herrschaft all-
mälig von den Wenigen zu den Vielen übergeht und fügte bei, daß drei
Männern die Ehre dieses Gedankens zukomme, Aristoteles, Hegel und ihm.
Wir konnten zwar nicht begreifen, welche Ehre Hegel und Gervinus deshalb
zukomme, daß sie einen Ausspruch des Aristoteles wiederholten, wir knüpfen
aber daran an, weil Aristoteles sich wahrscheinlich in gleicher Lage befand,
weil seine nachhaltige Bedeutung für die Jetztzeit, welche die aller übrigen
Weisen des Alterthums übertrifft, darin bestand, daß er der Codificator alles
bewährten Wissens seiner Zeit war, welches seinerseits ja auch wieder aus
den Ideen der hervorragendsten Denker der vorher verflossenen Jahrtausende
zusammengetragen war. Darin liegt ja auch die Überlegenheit der uns über¬
kommenen Werke des Aristoteles über die Plato's, daß dieser mehr seine
eigenen Wege wandelt, während der Erstere sich die ganze Cultur des Alter¬
thums assimilirte und als wahrer Bildungsträger der Gedankensolidarität der
Menschheit, unserer Zeit vermachte. Aus diesem Grunde haben Aussprüche
des Aristoteles stets das Gewicht von erprobten Erfahrungen, ja von Lehr¬
sätzen. Ein solcher Satz ist der Ausspruch des Lehrers des großen Alexander
daß die besten Zustände die mittleren seien. Dieser Satz findet seine volle,
Anwendung auch noch in unserer Zeit und namentlich bei der Frage, welcher
Umfang des Grundeigenthums für die Entwicklung der Staaten am zuträg¬
lichsten ist.


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[0387] Ire ländlichen Arbeiter und die Agrarfrage in Krosz- britannien. Von Max Wirth. I. Die Agrarfrage hat in der neuen Zeit an jener Bedeutung verloren, welche sie im Alterthume und im Mittelalter gehabt hat, weil durch die gro߬ artige Entwicklung der Industrie, der Schifffahrt und der Colonisatio?l in Amerika und Australien der Expansion der Bevölkerung unermeßliche neue Gebiete eröffnet wurden und es von Jahr zu Jahr leichter wird nach Un¬ glücksfällen des Lebens neue Laufbahnen zu ergreifen. Gleichwohl zeigt die in unsern Tagen vollstreckte große Reform in Rußland, wodurch 20 Millionen Leibeigene in freie, bäuerliche Grundeigenthümer umgewandelt wurden, daß sie immer noch ein gewichtiger Factor im Völkerleben geblieben ist. Als einst Gervinus in den Neactionsjahren wegen seiner Prophezeiung über den künftigen Sieg der Demokratie im letzten Jahrzehnt unseres Jahr¬ hunderts, durch welche Bismarck ein Viertel-Jahrhundert vorher einen Strich gemacht hat, vor dem Gericht zu Mannheim Rede stehen mußte, machte er auf die geschichtliche Entwicklung aufmerksam, in welcher die Herrschaft all- mälig von den Wenigen zu den Vielen übergeht und fügte bei, daß drei Männern die Ehre dieses Gedankens zukomme, Aristoteles, Hegel und ihm. Wir konnten zwar nicht begreifen, welche Ehre Hegel und Gervinus deshalb zukomme, daß sie einen Ausspruch des Aristoteles wiederholten, wir knüpfen aber daran an, weil Aristoteles sich wahrscheinlich in gleicher Lage befand, weil seine nachhaltige Bedeutung für die Jetztzeit, welche die aller übrigen Weisen des Alterthums übertrifft, darin bestand, daß er der Codificator alles bewährten Wissens seiner Zeit war, welches seinerseits ja auch wieder aus den Ideen der hervorragendsten Denker der vorher verflossenen Jahrtausende zusammengetragen war. Darin liegt ja auch die Überlegenheit der uns über¬ kommenen Werke des Aristoteles über die Plato's, daß dieser mehr seine eigenen Wege wandelt, während der Erstere sich die ganze Cultur des Alter¬ thums assimilirte und als wahrer Bildungsträger der Gedankensolidarität der Menschheit, unserer Zeit vermachte. Aus diesem Grunde haben Aussprüche des Aristoteles stets das Gewicht von erprobten Erfahrungen, ja von Lehr¬ sätzen. Ein solcher Satz ist der Ausspruch des Lehrers des großen Alexander daß die besten Zustände die mittleren seien. Dieser Satz findet seine volle, Anwendung auch noch in unserer Zeit und namentlich bei der Frage, welcher Umfang des Grundeigenthums für die Entwicklung der Staaten am zuträg¬ lichsten ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/387>, abgerufen am 23.07.2024.