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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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mehrten", sodaß letzthin das Schicksal aller Beschlüsse des Landtags in den
Händen von Leuten gelegen habe, "welchen die allgemeine Verachtung ent¬
gegengetragen werden sollte". Die Ueberläuferei sei innerhalb der patrioti¬
schen Partei "gradezu Mode", die Clubverhältnisse "unerträglich geworden",
die "ehemals patriotische Fraction, auf welche das katholische Volk in Baiern
dereinst mit so großem Stolze blicken zu dürfen glaubte, zu einem Sammel¬
surium von Leuten herabgesunken, welche von der Regierung verachtet würden
und der eigenen Partei ein Gegenstand des Abscheus, des Ekels geworden sei".

Zurückgeführt wird dies auf einen "Fehler", der darin bestanden, daß
man bei den Wahlen von 1869 das Hauptgewicht auf die äußere Frage ge¬
legt und die Häupter der ehemals großdeutschen Partei einfach als Preußen¬
feinde gewählt habe. Ein bemerkenswerthes Geständniß! Unter den "Preußen¬
feinden" von damals befinden sich eben Viele, denen das deutsche Vaterland
schließlich doch über Alles geht.

Das Höchste, was in jenem clerikalen Blatte von den Neuwahlen er¬
wartet wird, ist ein bloß numerischer Sieg der "Patrioten", denen es aber
auch fernerhin an der Einigkeit fehlen, wie dieselben auch nie ein einheitliches
Ministerium zu Stande bringen würden. Werfe man die Abtrünnigen über
Bord, so würde ihr Anhang Liberalen zum Siege verhelfen; wähle man sie
wieder, so komme es zu einer "neuen Auflage der Misere der Fraction". Die
Gemäßigten seien in allen Ländern am Unglück schuld, in Baiern habe man
die Krisis mit denselben noch durchzumachen; deshalb werde das Einzige, was
Rettung bringen könne, eine geschlossene ultramontane Mehrheit, nicht zu
erlangen sein.

Diese Schilderungen und Geständnisse sind sehr werthvoll. Sie enthalten
unzweideutige Zeugnisse, daß die Gährung der Gemüther in Baiern im besten
Fortschritte begriffen ist und welche Bedeutung den heftigen Streitigkeiten inner¬
halb der Patriotenpartei beizumessen ist, von welchen jüngst verlautete und die
man sich Mühe giebt zu verdecken.

Es darf als Thatsache betrachtet werden, daß der partikulare Geist in
dem Lande, welches vermöge seiner Vergangenheit der deutschen Einigung am
meisten widerstrebte, in Abnahme begriffen ist. Auf ein schnelles Fortschreiten
derselben kann man freilich nicht rechnen, wenigstens solange nicht, als die
liberale Partei sich zur nöthigen Thätigkeit nicht aufrafft. Es genügt aber,
den Fortschritt zu constatir^n, wie er sich in dem Schicksal der Patrioten¬
partei ausspricht, um an eine wachsende Annäherung Baierns an das Reich
zu glauben, mit welcher dem Partikularismus auch in Sachsen der Boden
entzogen und Fürst Bismarck's Politik aufs Neue ihre Rechtfertigung finden
K. W. wird.




Venmiworllicher Redakteur: Or. Hans Buin in Leipzig.
Verlag von F. L, Hervi" in Leipzig, -- Druck von Hiithcl 6 Herrmann in Leipzig.

mehrten", sodaß letzthin das Schicksal aller Beschlüsse des Landtags in den
Händen von Leuten gelegen habe, „welchen die allgemeine Verachtung ent¬
gegengetragen werden sollte". Die Ueberläuferei sei innerhalb der patrioti¬
schen Partei „gradezu Mode", die Clubverhältnisse „unerträglich geworden",
die „ehemals patriotische Fraction, auf welche das katholische Volk in Baiern
dereinst mit so großem Stolze blicken zu dürfen glaubte, zu einem Sammel¬
surium von Leuten herabgesunken, welche von der Regierung verachtet würden
und der eigenen Partei ein Gegenstand des Abscheus, des Ekels geworden sei".

Zurückgeführt wird dies auf einen „Fehler", der darin bestanden, daß
man bei den Wahlen von 1869 das Hauptgewicht auf die äußere Frage ge¬
legt und die Häupter der ehemals großdeutschen Partei einfach als Preußen¬
feinde gewählt habe. Ein bemerkenswerthes Geständniß! Unter den „Preußen¬
feinden" von damals befinden sich eben Viele, denen das deutsche Vaterland
schließlich doch über Alles geht.

Das Höchste, was in jenem clerikalen Blatte von den Neuwahlen er¬
wartet wird, ist ein bloß numerischer Sieg der „Patrioten", denen es aber
auch fernerhin an der Einigkeit fehlen, wie dieselben auch nie ein einheitliches
Ministerium zu Stande bringen würden. Werfe man die Abtrünnigen über
Bord, so würde ihr Anhang Liberalen zum Siege verhelfen; wähle man sie
wieder, so komme es zu einer „neuen Auflage der Misere der Fraction". Die
Gemäßigten seien in allen Ländern am Unglück schuld, in Baiern habe man
die Krisis mit denselben noch durchzumachen; deshalb werde das Einzige, was
Rettung bringen könne, eine geschlossene ultramontane Mehrheit, nicht zu
erlangen sein.

Diese Schilderungen und Geständnisse sind sehr werthvoll. Sie enthalten
unzweideutige Zeugnisse, daß die Gährung der Gemüther in Baiern im besten
Fortschritte begriffen ist und welche Bedeutung den heftigen Streitigkeiten inner¬
halb der Patriotenpartei beizumessen ist, von welchen jüngst verlautete und die
man sich Mühe giebt zu verdecken.

Es darf als Thatsache betrachtet werden, daß der partikulare Geist in
dem Lande, welches vermöge seiner Vergangenheit der deutschen Einigung am
meisten widerstrebte, in Abnahme begriffen ist. Auf ein schnelles Fortschreiten
derselben kann man freilich nicht rechnen, wenigstens solange nicht, als die
liberale Partei sich zur nöthigen Thätigkeit nicht aufrafft. Es genügt aber,
den Fortschritt zu constatir^n, wie er sich in dem Schicksal der Patrioten¬
partei ausspricht, um an eine wachsende Annäherung Baierns an das Reich
zu glauben, mit welcher dem Partikularismus auch in Sachsen der Boden
entzogen und Fürst Bismarck's Politik aufs Neue ihre Rechtfertigung finden
K. W. wird.




Venmiworllicher Redakteur: Or. Hans Buin in Leipzig.
Verlag von F. L, Hervi» in Leipzig, — Druck von Hiithcl 6 Herrmann in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/368>, abgerufen am 01.07.2024.