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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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auszunehmen pflegten. Dort hatte der junge Sommer mehr als reiche Ge¬
legenheit den sonderbaren Tönen zu lauschen. Wie er selbst bekennt, ver¬
dankt er dem Stande seiner Wiege die völlige Aneignung des Idioms, in
welchem er des Anziehenden so viel geschaffen und zum Gemeingut des deut¬
schen Sprachstammes gemacht hat.

Die ernsteren Versuche Sommer's fallen in die Zeit seines Hauslehrer¬
standes. Aber erst 1849 erschien das erste Heft seiner "Bilder und Klänge
aus Rudolstadt in Volksmundart", die, gegenwärtig auf ü Hefte
angewachsen, bereits in der siebenten Auflage vor uns liegen. Die Zahl
seiner hier veröffentlich ten Schöpfungen beläuft sich auf 144. von denen
89 Gedichte und 85 prosaische Stücke sind.

Einzelne neueren Datums bringt hie und da das Rudolstädter Wochen¬
blatt, doch tauchen, angeregt durch Sommer's Thätigkeit auch dialectische Ver¬
suche Anderer in diesen Blättern auf. Vielleicht ist in Rudolstadt die Zeit
vorüber, wo unten vollständige Verkennung und Mißverständniß gegenüber
diesen Leistungen sich geltend machten, da ein Theil der Mitbürger Sommer's
sich in ihrem Wesen und ihrer Sprache geflissentlich lächerlich gemacht fand.
Freilich noch schlimmer ist, die "von Oben her" sich geltend machende
Ansicht, daß diese Art von Thätigkeit mit dem geistlichen Amte Sommer's
schwer zu vereinbaren sei, und dem entsprechende Winke dem Rudolstädter
Volksdichter zugegangen sind. Wir enthalten uns jeden weiteren Urtheils in
dieser Sache. Diese Ansichten werden sich selbst richten, und -- verdienten
wohl, daß ihrer in einem besondern Verse mit dem bekannten Refrain "sgiht
doch nichts iber Rudelstadt" als einer Kehrseite des Rudolstädter. Eldorado
gedacht werde.

Wir gehen zur Würdigung der Sommer'schen Leistungen selbst über, ohne
diese auf eine Umkehr der Ansichten "von Oben" zu berechnen.

Wenn man den Versuch macht, die gesammten Produkte Sommer's nach
ihrem Inhalte zu classificiren, so wird man auf zwei größere Hauptgruppen
stoßen, welche das städtische und bäuerliche Element in seinem ganzen
Umfange zu charakterisiren versuchen. Ersteres ist, wie es in der Natur der
Sache begründet liegt, in weit reicherem Maße vertreten; aber trotz der ge¬
ringen numerischen Anzahl von Produkten, welche das bäuerliche Leben schil¬
dern, ist doch auch dieses in seinen Zügen hoch poetisch, wahr, realistisch treu
und fast allseitig dargestellt. Wir kommen später darauf zurück. Sehr reich
ist dagegen die Charakterisirung des städtischen Volkselementes, der der Dichter
ein Substrat durch seine Schilderungen der äußern städtischen Physiognomie
gegeben hat, wie wir sie besser gar nicht denken können. Was Sommer an
localen Erinnerungen uns vorführt, sind charakteristische Eigenschaften einer
Kleinstadt. Sie passen so vorzüglich zu dem ganzen Gepräge des Volksele-


Grenzlwten I. 1875. 43

auszunehmen pflegten. Dort hatte der junge Sommer mehr als reiche Ge¬
legenheit den sonderbaren Tönen zu lauschen. Wie er selbst bekennt, ver¬
dankt er dem Stande seiner Wiege die völlige Aneignung des Idioms, in
welchem er des Anziehenden so viel geschaffen und zum Gemeingut des deut¬
schen Sprachstammes gemacht hat.

Die ernsteren Versuche Sommer's fallen in die Zeit seines Hauslehrer¬
standes. Aber erst 1849 erschien das erste Heft seiner „Bilder und Klänge
aus Rudolstadt in Volksmundart", die, gegenwärtig auf ü Hefte
angewachsen, bereits in der siebenten Auflage vor uns liegen. Die Zahl
seiner hier veröffentlich ten Schöpfungen beläuft sich auf 144. von denen
89 Gedichte und 85 prosaische Stücke sind.

Einzelne neueren Datums bringt hie und da das Rudolstädter Wochen¬
blatt, doch tauchen, angeregt durch Sommer's Thätigkeit auch dialectische Ver¬
suche Anderer in diesen Blättern auf. Vielleicht ist in Rudolstadt die Zeit
vorüber, wo unten vollständige Verkennung und Mißverständniß gegenüber
diesen Leistungen sich geltend machten, da ein Theil der Mitbürger Sommer's
sich in ihrem Wesen und ihrer Sprache geflissentlich lächerlich gemacht fand.
Freilich noch schlimmer ist, die „von Oben her" sich geltend machende
Ansicht, daß diese Art von Thätigkeit mit dem geistlichen Amte Sommer's
schwer zu vereinbaren sei, und dem entsprechende Winke dem Rudolstädter
Volksdichter zugegangen sind. Wir enthalten uns jeden weiteren Urtheils in
dieser Sache. Diese Ansichten werden sich selbst richten, und — verdienten
wohl, daß ihrer in einem besondern Verse mit dem bekannten Refrain „sgiht
doch nichts iber Rudelstadt" als einer Kehrseite des Rudolstädter. Eldorado
gedacht werde.

Wir gehen zur Würdigung der Sommer'schen Leistungen selbst über, ohne
diese auf eine Umkehr der Ansichten „von Oben" zu berechnen.

Wenn man den Versuch macht, die gesammten Produkte Sommer's nach
ihrem Inhalte zu classificiren, so wird man auf zwei größere Hauptgruppen
stoßen, welche das städtische und bäuerliche Element in seinem ganzen
Umfange zu charakterisiren versuchen. Ersteres ist, wie es in der Natur der
Sache begründet liegt, in weit reicherem Maße vertreten; aber trotz der ge¬
ringen numerischen Anzahl von Produkten, welche das bäuerliche Leben schil¬
dern, ist doch auch dieses in seinen Zügen hoch poetisch, wahr, realistisch treu
und fast allseitig dargestellt. Wir kommen später darauf zurück. Sehr reich
ist dagegen die Charakterisirung des städtischen Volkselementes, der der Dichter
ein Substrat durch seine Schilderungen der äußern städtischen Physiognomie
gegeben hat, wie wir sie besser gar nicht denken können. Was Sommer an
localen Erinnerungen uns vorführt, sind charakteristische Eigenschaften einer
Kleinstadt. Sie passen so vorzüglich zu dem ganzen Gepräge des Volksele-


Grenzlwten I. 1875. 43
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[0345] auszunehmen pflegten. Dort hatte der junge Sommer mehr als reiche Ge¬ legenheit den sonderbaren Tönen zu lauschen. Wie er selbst bekennt, ver¬ dankt er dem Stande seiner Wiege die völlige Aneignung des Idioms, in welchem er des Anziehenden so viel geschaffen und zum Gemeingut des deut¬ schen Sprachstammes gemacht hat. Die ernsteren Versuche Sommer's fallen in die Zeit seines Hauslehrer¬ standes. Aber erst 1849 erschien das erste Heft seiner „Bilder und Klänge aus Rudolstadt in Volksmundart", die, gegenwärtig auf ü Hefte angewachsen, bereits in der siebenten Auflage vor uns liegen. Die Zahl seiner hier veröffentlich ten Schöpfungen beläuft sich auf 144. von denen 89 Gedichte und 85 prosaische Stücke sind. Einzelne neueren Datums bringt hie und da das Rudolstädter Wochen¬ blatt, doch tauchen, angeregt durch Sommer's Thätigkeit auch dialectische Ver¬ suche Anderer in diesen Blättern auf. Vielleicht ist in Rudolstadt die Zeit vorüber, wo unten vollständige Verkennung und Mißverständniß gegenüber diesen Leistungen sich geltend machten, da ein Theil der Mitbürger Sommer's sich in ihrem Wesen und ihrer Sprache geflissentlich lächerlich gemacht fand. Freilich noch schlimmer ist, die „von Oben her" sich geltend machende Ansicht, daß diese Art von Thätigkeit mit dem geistlichen Amte Sommer's schwer zu vereinbaren sei, und dem entsprechende Winke dem Rudolstädter Volksdichter zugegangen sind. Wir enthalten uns jeden weiteren Urtheils in dieser Sache. Diese Ansichten werden sich selbst richten, und — verdienten wohl, daß ihrer in einem besondern Verse mit dem bekannten Refrain „sgiht doch nichts iber Rudelstadt" als einer Kehrseite des Rudolstädter. Eldorado gedacht werde. Wir gehen zur Würdigung der Sommer'schen Leistungen selbst über, ohne diese auf eine Umkehr der Ansichten „von Oben" zu berechnen. Wenn man den Versuch macht, die gesammten Produkte Sommer's nach ihrem Inhalte zu classificiren, so wird man auf zwei größere Hauptgruppen stoßen, welche das städtische und bäuerliche Element in seinem ganzen Umfange zu charakterisiren versuchen. Ersteres ist, wie es in der Natur der Sache begründet liegt, in weit reicherem Maße vertreten; aber trotz der ge¬ ringen numerischen Anzahl von Produkten, welche das bäuerliche Leben schil¬ dern, ist doch auch dieses in seinen Zügen hoch poetisch, wahr, realistisch treu und fast allseitig dargestellt. Wir kommen später darauf zurück. Sehr reich ist dagegen die Charakterisirung des städtischen Volkselementes, der der Dichter ein Substrat durch seine Schilderungen der äußern städtischen Physiognomie gegeben hat, wie wir sie besser gar nicht denken können. Was Sommer an localen Erinnerungen uns vorführt, sind charakteristische Eigenschaften einer Kleinstadt. Sie passen so vorzüglich zu dem ganzen Gepräge des Volksele- Grenzlwten I. 1875. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/345>, abgerufen am 23.07.2024.