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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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sehr unnöthig gewesen. Hier geht "Onkel Sam" seit reichlich drei Wochen
allabendlich über die Bretter, aber Niemand hat davon gehört, daß etwa
Herr Davis beim Auswärtigen Amte eine Beschwerde erhoben habe. Die
Satire auf gewisse politische und sociale Zustände der Vereinigten Staaten ist
freilich äußerst scharf, aber sie ist entweder gerecht, und dann läßt sich nicht
gut etwas gegen sie einwenden, oder sie ist eine so handgreifliche Carricatur,
daß es lächerlich wäre, sich über dieselbe ernstlich zu erbosen. Ueber den In¬
halt des Stückes ist nicht gerade viel zu sagen. An Handlung ist, wie ge¬
wöhnlich bei Sardon, kein Reichthum; das ganze Schwergewicht fällt auf die
Veranschaulichung der Sitten. Um so mehr ist das Geschick des Autors zu
bewundern, mit dem er zahllose kleine Bühnencffeete anzubringen und den
Zuschauer über den trägen Gang des Dramas hinwegzutäuschen versteht.
Und was den eigentlichen Inhalt anlangt, so überraschen uns um die Wette
scharfe Beobachtungsgabe, beißender Witz und geistreicher Dialog. Welche
Typen, dieser Tapplebot, der vor Freude aufjauchzen möchte über den schlauen
Bankerott, den sein Sohn gemacht, über die doppelte Buchführung, welche
seine Nichte über ihre Liebhaber führt! Dieser Ulysses, der seinem Vater
das mit schwerem Gelde erkaufte Deputirtenmandat vor der Nase wegschnappt!
Diese Bella, welche seelenvergnügt ihrem geschiedenen Gatten ihren zweiten
Mann vorstellt! Und dann dieser Wahlagent Jyp, dieser Geistliche Buxton,
dieser Advocat Fairferr, dieser Colonel Flybursy! Lauter lebensvolle, wahr¬
haft künstlerische Portraits! Und diesen Charakteren hat der Dichter ein
paar Repräsentanten der alten Welt gegenübergestellt, selbstverständlich Fran¬
zosen, und nicht minder selbstverständlich von unwiderstehlicher Liebenswürdig¬
keit und Alles besiegender Genialität. Da kann es keine Frage sein, welche
der beiden Welten den Kürzeren zieht. Doch läßt es der Autor inmitten
dieses schroffen Gegensatzes auch an einer versöhnenden Idee nicht fehlen, in¬
dem er grade die raffinirteste und scheinbar herzloseste der amerikanischen
Schönen durch die ritterliche Liebe eines jungen Franzosen zu den edelsten
Gefühlen sich erheben läßt.

Die rückhaltlosen Verehrer der amerikanischen Union werden "Onkel
Sam" freilich mit sehr gemischten Gefühlen betrachten; Niemand aber wird
dem Stücke das Prädicat eines hochinteressanter Bühnenerzeugnisses bestreikn
können. Das Stadttheater, welches aus die Aufführung eine ganz besondere
Sorgfalt verwendet, hat sich ein wirkliches Verdienst erworben, indem es uns
X- X- mit demselben bekannt machte.




sehr unnöthig gewesen. Hier geht „Onkel Sam" seit reichlich drei Wochen
allabendlich über die Bretter, aber Niemand hat davon gehört, daß etwa
Herr Davis beim Auswärtigen Amte eine Beschwerde erhoben habe. Die
Satire auf gewisse politische und sociale Zustände der Vereinigten Staaten ist
freilich äußerst scharf, aber sie ist entweder gerecht, und dann läßt sich nicht
gut etwas gegen sie einwenden, oder sie ist eine so handgreifliche Carricatur,
daß es lächerlich wäre, sich über dieselbe ernstlich zu erbosen. Ueber den In¬
halt des Stückes ist nicht gerade viel zu sagen. An Handlung ist, wie ge¬
wöhnlich bei Sardon, kein Reichthum; das ganze Schwergewicht fällt auf die
Veranschaulichung der Sitten. Um so mehr ist das Geschick des Autors zu
bewundern, mit dem er zahllose kleine Bühnencffeete anzubringen und den
Zuschauer über den trägen Gang des Dramas hinwegzutäuschen versteht.
Und was den eigentlichen Inhalt anlangt, so überraschen uns um die Wette
scharfe Beobachtungsgabe, beißender Witz und geistreicher Dialog. Welche
Typen, dieser Tapplebot, der vor Freude aufjauchzen möchte über den schlauen
Bankerott, den sein Sohn gemacht, über die doppelte Buchführung, welche
seine Nichte über ihre Liebhaber führt! Dieser Ulysses, der seinem Vater
das mit schwerem Gelde erkaufte Deputirtenmandat vor der Nase wegschnappt!
Diese Bella, welche seelenvergnügt ihrem geschiedenen Gatten ihren zweiten
Mann vorstellt! Und dann dieser Wahlagent Jyp, dieser Geistliche Buxton,
dieser Advocat Fairferr, dieser Colonel Flybursy! Lauter lebensvolle, wahr¬
haft künstlerische Portraits! Und diesen Charakteren hat der Dichter ein
paar Repräsentanten der alten Welt gegenübergestellt, selbstverständlich Fran¬
zosen, und nicht minder selbstverständlich von unwiderstehlicher Liebenswürdig¬
keit und Alles besiegender Genialität. Da kann es keine Frage sein, welche
der beiden Welten den Kürzeren zieht. Doch läßt es der Autor inmitten
dieses schroffen Gegensatzes auch an einer versöhnenden Idee nicht fehlen, in¬
dem er grade die raffinirteste und scheinbar herzloseste der amerikanischen
Schönen durch die ritterliche Liebe eines jungen Franzosen zu den edelsten
Gefühlen sich erheben läßt.

Die rückhaltlosen Verehrer der amerikanischen Union werden „Onkel
Sam" freilich mit sehr gemischten Gefühlen betrachten; Niemand aber wird
dem Stücke das Prädicat eines hochinteressanter Bühnenerzeugnisses bestreikn
können. Das Stadttheater, welches aus die Aufführung eine ganz besondere
Sorgfalt verwendet, hat sich ein wirkliches Verdienst erworben, indem es uns
X- X- mit demselben bekannt machte.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/285>, abgerufen am 01.07.2024.