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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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wenigstens wird der Galvanisirungsversuch nicht von Erfolg sein. Man hört
von einer "Großen Carnevalsgesellschaft"; wer aber bemerkt etwas von ihrem
Wirken? Am Dienstag wird der Bewohner der Kaiserstadt unter den Local-
nachrichten der Blätter lesen, daß Tags zuvor eine große "Kappenfahrt" statt
gefunden, aber von jedem Tausend der hauptstädtischen Bevölkerung werden
kaum fünf von dem Aufzuge etwas wahrgenommen haben. Nein, in Privat-
eirkeln mögen allerlei Scherze gelingen, aber den Fasching wieder zu einem
öffentlichen Volksfeste machen zu wollen, ist in der nüchternen "Stadt der
Intelligenz" ein nutz- und aussichtsloses Beginnen. Die "Volksredouten"
ohne Masken und die Pfannkuchen -- das werden bei uns für die große
Menge nach wie vor die einzigen Ueberreste der alten Carnevalsfeier bleiben.

Nicht einmal unsere Theater nehmen sich die Mühe, den Faschingstagen
zu Liebe ihr gewöhnliches Repertoir zu unterbrechen. Das Opernhaus kün¬
digt für den Fastnachtsdienstag Verdi's tragische "A'ita". das Schauspielhaus
für den Fastnachtsmontag Kleist's "Hermannsschlacht" an. Bei dem letzteren
Stück verlohnt es sich, einen Augenblick zu verweilen. Seine Vorführung in
der trefflichen Bearbeitung von Rudolph Gene'e ist die hervorragendste That,
welche die königl. Bühne in der gegenwärtigen Saison zu verzeichnen hat.
Man faßt es kaum, wie dies Juwel patriotischer Bühnendichtung so lange
unbenutzt, ja ungekannt in der Rumpelkammer liegen konnte. Wie haben
sich in den großen und ernsten Tagen unserer jüngsten nationalen Erhebung
die deutschen Theaterdirectionen abgemüht, ein Drama zu finden, welches der
öffentlichen Stimmung entgegenkäme, dem Alles beherrschenden Gefühle einen
würdigen Ausdruck verliehe! Schiller's Tell, nach welchem allerwärts zuerst
gegriffen wurde, paßte doch nur halb in die Situation. Und was für Mach¬
werke haben wir uns inzwischen von unsern nationalen Gedenktagen gefallen
lassen müssen! Da endlich langt man dies vergessene Kleinod hervor, und
welch' einen glücklichen Griff man damit gethan, zeigt der außerordentliche
Erfolg. Das ernste Stück ist in den Räumen unseres Schauspielhauses selten
der Gegenstand enthusiastischer Kundgebungen; hier erdröhnte das Haus von
zahllosen Beifallssalven. Bis zu welcher Höhe erst hätte die Begeisterung
steigen müssen, wenn das Stück vier Jahre früher über die Bretter ge¬
gangen wäre!

Der Grund dieser durchschlagenden Wirkung liegt zunächst in dem natio¬
nalen Geiste, welcher das Drama durchweht, außerdem aber auch in dem
künstlerischen Werthe der Dichtung. Freilich hatte Heinrich v. Kleist durchaus
nicht die Absicht, eine Episode der altgermanischen Geschichte historisch getreu
darzustellen; er wollte nichts weiter, als ein auf die unmittelbarste Gegen¬
wart berechnetes Tendenzstück schreiben, und der Zuschauer kann es mit Hän¬
den greifen, daß unter dem der grauen Vorzeit entlehnten Gewände das


wenigstens wird der Galvanisirungsversuch nicht von Erfolg sein. Man hört
von einer „Großen Carnevalsgesellschaft"; wer aber bemerkt etwas von ihrem
Wirken? Am Dienstag wird der Bewohner der Kaiserstadt unter den Local-
nachrichten der Blätter lesen, daß Tags zuvor eine große „Kappenfahrt" statt
gefunden, aber von jedem Tausend der hauptstädtischen Bevölkerung werden
kaum fünf von dem Aufzuge etwas wahrgenommen haben. Nein, in Privat-
eirkeln mögen allerlei Scherze gelingen, aber den Fasching wieder zu einem
öffentlichen Volksfeste machen zu wollen, ist in der nüchternen „Stadt der
Intelligenz" ein nutz- und aussichtsloses Beginnen. Die „Volksredouten"
ohne Masken und die Pfannkuchen — das werden bei uns für die große
Menge nach wie vor die einzigen Ueberreste der alten Carnevalsfeier bleiben.

Nicht einmal unsere Theater nehmen sich die Mühe, den Faschingstagen
zu Liebe ihr gewöhnliches Repertoir zu unterbrechen. Das Opernhaus kün¬
digt für den Fastnachtsdienstag Verdi's tragische „A'ita". das Schauspielhaus
für den Fastnachtsmontag Kleist's „Hermannsschlacht" an. Bei dem letzteren
Stück verlohnt es sich, einen Augenblick zu verweilen. Seine Vorführung in
der trefflichen Bearbeitung von Rudolph Gene'e ist die hervorragendste That,
welche die königl. Bühne in der gegenwärtigen Saison zu verzeichnen hat.
Man faßt es kaum, wie dies Juwel patriotischer Bühnendichtung so lange
unbenutzt, ja ungekannt in der Rumpelkammer liegen konnte. Wie haben
sich in den großen und ernsten Tagen unserer jüngsten nationalen Erhebung
die deutschen Theaterdirectionen abgemüht, ein Drama zu finden, welches der
öffentlichen Stimmung entgegenkäme, dem Alles beherrschenden Gefühle einen
würdigen Ausdruck verliehe! Schiller's Tell, nach welchem allerwärts zuerst
gegriffen wurde, paßte doch nur halb in die Situation. Und was für Mach¬
werke haben wir uns inzwischen von unsern nationalen Gedenktagen gefallen
lassen müssen! Da endlich langt man dies vergessene Kleinod hervor, und
welch' einen glücklichen Griff man damit gethan, zeigt der außerordentliche
Erfolg. Das ernste Stück ist in den Räumen unseres Schauspielhauses selten
der Gegenstand enthusiastischer Kundgebungen; hier erdröhnte das Haus von
zahllosen Beifallssalven. Bis zu welcher Höhe erst hätte die Begeisterung
steigen müssen, wenn das Stück vier Jahre früher über die Bretter ge¬
gangen wäre!

Der Grund dieser durchschlagenden Wirkung liegt zunächst in dem natio¬
nalen Geiste, welcher das Drama durchweht, außerdem aber auch in dem
künstlerischen Werthe der Dichtung. Freilich hatte Heinrich v. Kleist durchaus
nicht die Absicht, eine Episode der altgermanischen Geschichte historisch getreu
darzustellen; er wollte nichts weiter, als ein auf die unmittelbarste Gegen¬
wart berechnetes Tendenzstück schreiben, und der Zuschauer kann es mit Hän¬
den greifen, daß unter dem der grauen Vorzeit entlehnten Gewände das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/282>, abgerufen am 23.07.2024.