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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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dieser Erscheinung nachzugehen, und, wenn die Gründe erkannt sind, die Mittel
zur Abhülfe wenigstens zu bezeichnen.

Es läßt sich nun im Voraus erwarten, daß, wie das ganze menschliche
Leben in seiner Entwicklung und seinen Zuständen von den materiellen und
geistigen Gütern und Interessen abhängt, so auch diese Erscheinung ebenso
durch materielle, wie durch geistige Güter bedingt ist, deren causales Zusam¬
menwirken nach zeitlichen und örtlichen Verhältnissen verschieden sein kann,
aber nie gefehlt hat und auch nie fehlen wird. Es kann sich also nur darum
handeln, diese Gründe in ihrem jedesmaligen Verhältnisse und ihrer besonderen,
den Ausschlag gebenden Bedeutung zu erkennen, und so die rechte Diagnose
der Krankheit zu stellen, von der jene Erscheinungen nur die auf der Ober¬
fläche erscheinenden Symptome sind.

Wir nehmen nun keinen Anstand zu erklären, daß der Theologen-Mangel
in der gegenwärtigen Zeit vorzugsweise materielle Gründe hat, so gewiß zu
diesen auch geistige in den theologischen und kirchlichen Zuständen der Gegen¬
wart treten und sie verstärken.

Sicher darf zuerst über jene Erscheinung, daß von 65 Abiturienten von
sämmtlichen Berliner Gymnasien nur Einer sich zum Studium der Theologie
entschlossen hat, zweierlei ausgesprochen werden:

1) es liegt nicht an den Zuständen der Theologie, weder im Großen,
dem Verhältniß der Wissenschaft zu den anderen Wissenschaften, und der
Stellung der Laien zu ihr ("der Ausnahmestellung, wie die Ev. K> Z. sagt,
welche der Liberalismus den Geistlichen anweist"), noch an den Richtungen
der Facultäten. Letztere kämen erst in Frage, wenn es sich darum handelte,
wohin sich die Mehrzahl der Abiturienten zum Studium der Theologie wendete.
Aber die Sache liegt nach dem vorstehenden Artikel der Ev. K. Z. so, daß
überhaupt niemand mehr Theologie studieren will, von 65 Einer, sage Einer
in Berlin. Das ist noch schlimmer als in Darmstadt, wo im Herbste 1874
von 31 Abiturienten auch nur Einer sich zum Studium der Theologie ent¬
schlossen hat. Freilich wird dieser Eine die theologischen Hörsäle in Gießen
nicht füllen, aber es bleibt immer ungerecht, wie die Korrespondenzen "Aus
Darmstadt" oder "Aus dem Großherzogthum Hessen" in den "lutherischen"
kirchlichen Zeitschriften thun, die Schuld dieser Zustände auf die Richtung der
Facultät in Gießen zu werfen, zumal notorisch in ihr verschiedene Stand¬
punkte sind, und das kirchliche Bekenntniß der Vertretung nicht entbehrt, wenn
auch über die Art der Vertretung gerade dem Schreiber dieses kein Urtheil
erlaubt ist.

2) geht aus dieser Erscheinung in Berlin hervor, daß, so lange nicht die
äußere materielle Stellung der Geistlichen eine ganz andere, d. h. den anderen
Beamten durchschnittlich gleiche geworden, also in weit höherem Grade auf-


dieser Erscheinung nachzugehen, und, wenn die Gründe erkannt sind, die Mittel
zur Abhülfe wenigstens zu bezeichnen.

Es läßt sich nun im Voraus erwarten, daß, wie das ganze menschliche
Leben in seiner Entwicklung und seinen Zuständen von den materiellen und
geistigen Gütern und Interessen abhängt, so auch diese Erscheinung ebenso
durch materielle, wie durch geistige Güter bedingt ist, deren causales Zusam¬
menwirken nach zeitlichen und örtlichen Verhältnissen verschieden sein kann,
aber nie gefehlt hat und auch nie fehlen wird. Es kann sich also nur darum
handeln, diese Gründe in ihrem jedesmaligen Verhältnisse und ihrer besonderen,
den Ausschlag gebenden Bedeutung zu erkennen, und so die rechte Diagnose
der Krankheit zu stellen, von der jene Erscheinungen nur die auf der Ober¬
fläche erscheinenden Symptome sind.

Wir nehmen nun keinen Anstand zu erklären, daß der Theologen-Mangel
in der gegenwärtigen Zeit vorzugsweise materielle Gründe hat, so gewiß zu
diesen auch geistige in den theologischen und kirchlichen Zuständen der Gegen¬
wart treten und sie verstärken.

Sicher darf zuerst über jene Erscheinung, daß von 65 Abiturienten von
sämmtlichen Berliner Gymnasien nur Einer sich zum Studium der Theologie
entschlossen hat, zweierlei ausgesprochen werden:

1) es liegt nicht an den Zuständen der Theologie, weder im Großen,
dem Verhältniß der Wissenschaft zu den anderen Wissenschaften, und der
Stellung der Laien zu ihr („der Ausnahmestellung, wie die Ev. K> Z. sagt,
welche der Liberalismus den Geistlichen anweist"), noch an den Richtungen
der Facultäten. Letztere kämen erst in Frage, wenn es sich darum handelte,
wohin sich die Mehrzahl der Abiturienten zum Studium der Theologie wendete.
Aber die Sache liegt nach dem vorstehenden Artikel der Ev. K. Z. so, daß
überhaupt niemand mehr Theologie studieren will, von 65 Einer, sage Einer
in Berlin. Das ist noch schlimmer als in Darmstadt, wo im Herbste 1874
von 31 Abiturienten auch nur Einer sich zum Studium der Theologie ent¬
schlossen hat. Freilich wird dieser Eine die theologischen Hörsäle in Gießen
nicht füllen, aber es bleibt immer ungerecht, wie die Korrespondenzen „Aus
Darmstadt" oder „Aus dem Großherzogthum Hessen" in den „lutherischen"
kirchlichen Zeitschriften thun, die Schuld dieser Zustände auf die Richtung der
Facultät in Gießen zu werfen, zumal notorisch in ihr verschiedene Stand¬
punkte sind, und das kirchliche Bekenntniß der Vertretung nicht entbehrt, wenn
auch über die Art der Vertretung gerade dem Schreiber dieses kein Urtheil
erlaubt ist.

2) geht aus dieser Erscheinung in Berlin hervor, daß, so lange nicht die
äußere materielle Stellung der Geistlichen eine ganz andere, d. h. den anderen
Beamten durchschnittlich gleiche geworden, also in weit höherem Grade auf-


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[0250] dieser Erscheinung nachzugehen, und, wenn die Gründe erkannt sind, die Mittel zur Abhülfe wenigstens zu bezeichnen. Es läßt sich nun im Voraus erwarten, daß, wie das ganze menschliche Leben in seiner Entwicklung und seinen Zuständen von den materiellen und geistigen Gütern und Interessen abhängt, so auch diese Erscheinung ebenso durch materielle, wie durch geistige Güter bedingt ist, deren causales Zusam¬ menwirken nach zeitlichen und örtlichen Verhältnissen verschieden sein kann, aber nie gefehlt hat und auch nie fehlen wird. Es kann sich also nur darum handeln, diese Gründe in ihrem jedesmaligen Verhältnisse und ihrer besonderen, den Ausschlag gebenden Bedeutung zu erkennen, und so die rechte Diagnose der Krankheit zu stellen, von der jene Erscheinungen nur die auf der Ober¬ fläche erscheinenden Symptome sind. Wir nehmen nun keinen Anstand zu erklären, daß der Theologen-Mangel in der gegenwärtigen Zeit vorzugsweise materielle Gründe hat, so gewiß zu diesen auch geistige in den theologischen und kirchlichen Zuständen der Gegen¬ wart treten und sie verstärken. Sicher darf zuerst über jene Erscheinung, daß von 65 Abiturienten von sämmtlichen Berliner Gymnasien nur Einer sich zum Studium der Theologie entschlossen hat, zweierlei ausgesprochen werden: 1) es liegt nicht an den Zuständen der Theologie, weder im Großen, dem Verhältniß der Wissenschaft zu den anderen Wissenschaften, und der Stellung der Laien zu ihr („der Ausnahmestellung, wie die Ev. K> Z. sagt, welche der Liberalismus den Geistlichen anweist"), noch an den Richtungen der Facultäten. Letztere kämen erst in Frage, wenn es sich darum handelte, wohin sich die Mehrzahl der Abiturienten zum Studium der Theologie wendete. Aber die Sache liegt nach dem vorstehenden Artikel der Ev. K. Z. so, daß überhaupt niemand mehr Theologie studieren will, von 65 Einer, sage Einer in Berlin. Das ist noch schlimmer als in Darmstadt, wo im Herbste 1874 von 31 Abiturienten auch nur Einer sich zum Studium der Theologie ent¬ schlossen hat. Freilich wird dieser Eine die theologischen Hörsäle in Gießen nicht füllen, aber es bleibt immer ungerecht, wie die Korrespondenzen „Aus Darmstadt" oder „Aus dem Großherzogthum Hessen" in den „lutherischen" kirchlichen Zeitschriften thun, die Schuld dieser Zustände auf die Richtung der Facultät in Gießen zu werfen, zumal notorisch in ihr verschiedene Stand¬ punkte sind, und das kirchliche Bekenntniß der Vertretung nicht entbehrt, wenn auch über die Art der Vertretung gerade dem Schreiber dieses kein Urtheil erlaubt ist. 2) geht aus dieser Erscheinung in Berlin hervor, daß, so lange nicht die äußere materielle Stellung der Geistlichen eine ganz andere, d. h. den anderen Beamten durchschnittlich gleiche geworden, also in weit höherem Grade auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/250>, abgerufen am 01.07.2024.